SEIN ALPHAWOLF

Prolog

Hil

 

Ich habe es geschafft! Ich kann nicht glauben, dass es funktioniert hat. Obwohl wir eine rund um die Uhr Überwachung haben sollten, konnte ich meinen Vater davon überzeugen, dass mein Bruder meinen besten Freund Dillon und mich zum Jahrmarkt bringt. Es war abends … und ohne Aufsicht.

Sobald wir dort waren, fragten Dillon und ich, ob wir in das Spiegelkabinett gehen könnten. Remy, der eigentlich überhaupt nicht dort sein wollte, stimmte nach ein wenig Genörgel zu.
 Und als wir drinnen waren, lenkte Dillon Remy ab, während ich den Ausgang suchte und floh.

Es ist beinahe ein Wunder. Man könnte fast denken, ich bin ein Agent wie aus den Filmen. Oder Veronica von Riverdale. Doch ganz egal wie aufgeregt ich wegen der Freiheit bin, die ich zum ersten Mal überhaupt erlebe, ist das erst der erste Teil.

Ich hatte die letzten Tage damit zugebracht, das alles hier zu planen und Dillon zu überzeugen, mir zu helfen, weil ich jemanden treffen musste. Das wird sich vielleicht wie das Klischee schlechthin anhören, doch ich denke, ich habe den Jungen getroffen, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen werde. Er sagt, dass wir Schicksalsgefährten sind und ich glaube ihm.

Ich weiß, was alle sagen würden, wenn ich ihnen das erzählte. ‘Hil, was hörst du auf einen Kerl, den du im Internet kennengelernt hast? Du bist 14, nicht 8.’ Dillon hat mir diesbezüglich bereits einen Vortrag gehalten. Aber so ist es nicht. Ich bin kein Idiot.

Ich habe ihn in einem Chatforum im Darkweb getroffen. Es hört sich bedenklich an, ist es aber nicht. Es ist einfach eine Version des Internets, die ein bisschen privater ist. Und wenn du so wie ich Geheimnisse hast – wie meine ganze Familie, genau genommen -, dann ist das die bessere Variante.

Du könntest zum Beispiel auf Tumblr keine Chatgruppe für Gestaltwandler haben. Okay, das nehme ich zurück. Dort habe ich schon mal eine gesehen. Aber jeder dort ist nur ein Möchtegerngestaltwandler. Es gibt einen Typen, dessen Vater ihn von Geburt an zu einem Wolfswandler gemacht hat. Und er ist so ziemlich die berühmteste Person der Welt.

Alle wollen wie er sein. Jeder will gern glauben, dass wenn er sich genug anstrengt, er sich in einen Wolf verwandeln kann, wenn er wütend wird. Das ist ein echt bekanntes Meme.

Als echter Wandler, oder zumindest jemand, dessen Vater ein Wolf ist, finde ich das so nervig. Ist das denn nicht so was wie kulturelle Aneignung oder so? Beziehungsweise wäre es das wohl, wenn ich mich denn endlich verwandelte.

Vater sagt, dass ich ein Spätzünder bin. Sowohl Remy als auch ich. Bei Remy besonders, weil er 17 ist und sich immer noch nicht verwandelt hat. Vater sagt, dass es daran liegt, dass meine Mutter ein Mensch ist. Er ist besorgt, dass es eine Generation übersprungen hat.

Darum war ich in den Foren des Darkweb gewesen. Ich habe nach Gestaltwandlern in meinem Alter gesucht, die mehr über diese Sachen wussten. Da habe ich Edwin getroffen. Und ja, er ist wirklich ein 16-jähriger Junge und keiner dieser Widerlinge, die versuchen, sich mit Jungs zu verabreden. Er hat mir Fotos geschickt.

Er hat eine Weile gebraucht, mich davon zu überzeugen, ihm eines zurückzuschicken. Ich mag keine Fotos von mir machen. Sie lassen mich alle wie 12 aussehen. Wahrscheinlich, weil ich genau so aussehe. Doch als ich ihm schließlich eines geschickte, sagte er mir, dass ich perfekt war.

Offensichtlich bin ich das nicht. Das weiß ich. Aber die Sache ist die, dass er es immer wieder sagte.

„Hil, du bist perfekt. Hil, du bist perfekt.“

Wenn du das oft genug hörst, fängst du an, es zu glauben. Oder zumindest dass er es glaubt.

Es gibt allerdings ein paar Probleme. Das erste ist, dass er mich noch nicht persönlich getroffen hat. Du kannst mir glauben, dass ich jede Perspektive gefunden habe, die mich hat älter aussehen lassen. Was würde er also sagen, wenn er mich direkt vor sich sehen würde?

Kennst du das Gefühl, dass du etwas so sehr glauben möchtest, dass wenn es nicht eintrifft, du weißt, dass es dich umbringen wird? Nun, was ist, wenn ich alles falsch verstanden habe? Was ist, wenn Edwin nicht auf Kerle steht und er mich auslacht oder so, wenn er meine offensichtlich schwule Wenigkeit sieht? Das könnte ich nicht ertragen. Ich mag echt abgebrüht wirken, weil ich mich so wie ein Ninja wegschleiche, aber das bin ich eigentlich nicht. 

Ich bin schmächtig und ungelenk und wenn es Dillon nicht gäbe, hätte ich gar keine Freunde. Ich bin nicht gerade ein strahlendes Beispiel an Selbstvertrauen. Wenn du also jemanden wie Edwin triffst und er etwas über dich sagt, dann willst du wirklich, dass es wahr ist. Du willst wenigstens, dass eine Person auf dieser Welt denkt, dass du – genau wie du bist – perfekt bist. Und wenn Edwin dieser Junge ist, dann werde ich alles tun, was nötig ist, um bei ihm zu sein.

Das zweite Problem ist ein bisschen kniffliger. Ich habe ihm irgendwie erzählt, dass ich mich verwandeln kann. Er meint, dass er sich seit Jahren verwandelt. Er hat mir sogar ein Bild von seinem Wolf geschickt. Als er mich nach einem Bild von mir gefragt hat, habe ich ein Foto aus dem Internet benutzt und ihm gesagt, dass es von einem Familienausflug nach Yellowstone stammt.

Ich weiß nicht, warum ich gelogen habe. Gut, das ist eine Lüge. Ich weiß genau, warum ich es getan habe. Er hat ein ziemliches Trara darum gemacht, dass ich mich verwandeln kann. Ich war mir einfach nicht sicher, ob er mich immer noch mögen würde, wenn ich es nicht könnte.

Ich musste lügen, oder? Und nun, da ich nur noch wenige Minuten davon entfernt war, ihn zum ersten Mal persönlich zu treffen, fragte ich mich, wie groß der Fehler war, den ich begangen hatte. Er würde keinesfalls glauben, dass ich perfekt war, wenn er mich erst einmal sah, oder?

Ich meine, ich wollte, dass er das tat. Aber lasst uns ehrlich sein, es würde mich am Boden zerstören, wenn das alles nur ein riesiger Scherz war und er nicht einmal auftaucht. Ich weiß nicht, ob ich das verkraften könnte. Allein wenn ich daran denke, treten mir Tränen in die Augen.

Oh Gott, das alles war nur ein riesiger Witz, oder? Und ich bin darauf reingefallen. Ich war der dumme schwule Junge, der darauf reingefallen war.

Je näher ich dem ausgemachten Treffpunkt kam, desto weicher wurden meine Knie. Ich brach in mich zusammen. Die Wahrheit wurde immer deutlicher. Ich war einfach der bemitleidenswerte Idiot, der sich in den ersten Typen verliebte, der etwas Nettes zu ihm sagte. Ich war der beeinflussbare, erbärmliche Verlierer, den niemand jemals lieben würde und über den sich alle immer lustig machen würden.

Ich …

„Hil!“, hörte ich und tauchte aus meinem Gedankenkarussell auf.

Ich erkannte die Stimme nicht. Ich drehte mich auf der Suche nach der Quelle um und erblickte ihn. Es war Edwin. Als ich ihn sah, kribbelte jede Zelle meines Körpers. Er war gekommen. Das war kein Witz. Das war echt.

Ich versuchte nicht zu weinen. Ich versagte. War das wegen all dem Stress? Vielleicht. Ich fühlte mich nur so erleichtert. Es gab nur noch eine andere Sache, die ich wollte, die ich brauchte. Ich wollte ihn die Worte sagen hören, die er immer benutzt hatte, wenn wir uns online getroffen haben.

„Du bist perfekt“, sagte er und füllte ein Loch in mir, von dessen Existenz ich nichts gewusst hatte.

„Edwin?“, fragte ich, wischte mir die Tränen aus den Augen und versuchte, mich normal zu verhalten.

Er sah genauso wie auf seinem Foto aus. Er war alles, was er von sich behauptet hatte. Aber wer waren die Leute hinter ihm?

„Ja“, sagte er mit einem Lächeln. „Ich freue mich, dass du gekommen bist.“

„Wie könnte ich nicht? Du hast mich darum gebeten“, sagte ich und erinnerte ihn daran, wie er beinahe darauf bestanden hatte.

„Ja. Das wir irgendwie wichtig.“

„Wichtig?“

„Ja, weil das vielleicht die letzte Chance ist, die wir bekommen.“

Ich sah ihn verwirrt an. Meine Augen schossen zu den Jungen, die wie Drecksäcke aussahen und hinter ihm standen.

„Was geht hier vor?“, fragte ich und bekam ein ungutes Gefühl.

„Oh. Das sind meine Freunde. Wir, ähm, wir brauchen deine Hilfe bei etwas.“

Er vermittelte mir inzwischen ein Gefühl, dass ich von ihm online gar nicht bekommen hatte. Ihn umgab eine nervöse Energie. Ich dachte nicht, dass es wegen mir war.

„Ich dachte, du hättest mich …“, ich sah zu den Jungs hinter ihm und senkte meine Stimme, „… für ein Date hergebeten.“

Seine Freunde hörten mich und lachten. Warum war das lustig? Was war hier los?

„Ja, auf jeden Fall“, erwiderte Edwin und hatte meine Aufmerksamkeit. „Es ist nur, dass wir vorher bei etwas deine Hilfe brauchen. Danach können wir ein Eis essen gehen oder so. Wäre das okay für dich?“

Ich mochte nicht die Richtung, in die das hier ging, wusste aber nicht warum. Er war hergekommen, wie er es gesagt hatte. Er hatte mich persönlich gesehen und dachte immer noch, dass ich perfekt war. Er redete sogar vor seinen Freunden davon, zusammen Eis essen zu gehen.

Das war doch alles, was ich wollte, oder? Alles, was ich tun musste, war, ihm bei etwas zu helfen, ehe wir gehen konnten. Das war nicht zu seltsam, oder?

„Bei was brauchst du meine Hilfe?“

Edwin sah sich mit fieberhafter Aufregung zu seinen Freunden um. Er strich sein verfilztes schwarzes Haar zurück, straffte seinen schlaksigen Körper und konzentrierte seine besessenen Augen auf mich.  Ein Schauer schoss mein Rückgrat hinauf.

„Es gibt da jemanden, mit dem wir reden müssen. Aber wir denken, dass derjenige nicht kommen wird, wenn einer von uns fragt“, meinte er und gestikulierte in Richtung seiner vier zwielichtig aussehenden Freunde.

„Über was wollt ihr euch mit der Person unterhalten?“

„Wir wollen nur ein Schwätzchen haben. Nichts Verrücktes. Die Person ist auch ein Gestaltwandler. Wir wollen einfach nur darüber reden.“

„Du meinst, dass du fragen willst, ob er eurem Rudel beitreten will oder so?“

Edwin sah seine Freunde an und lachte.

„So etwas in der Art“, sagte er und drehte sich wieder zu mir.

„Wie soll ich denjenigen dazu bringen, mit euch zu reden?“

„Ich weiß nicht. Ihr seid beide Wandler. Vielleicht kannst du dich für ihn verwandeln, damit er weiß, was du bist, und dann kannst du ihn zu uns führen.“

„Wo werdet ihr sein?“, fragte ich und bekam ein wirklich schlechtes Gefühl bei all dem.

„Siehst du die Bäume da drüben?“, meinte er und zeigte auf ein Dickicht tiefer im Central Park. „Wir werden dort warten.“

„Über was wollt ihr mit dem Jungen reden?“, fragte ich und verspürte einen Ansturm der Angst.

„Mach dir darüber mal keine Gedanken. Bring ihn einfach her. Danach gehen wir ein Eis essen. Du willst doch noch ein Eis essen gehen, richtig?“

„Klar“, sagte ich und wollte es unbedingt.

„Dann kümmre dich darum und dann machen wir genau das“, bot er mir ein Lächeln an.

Ich schaute zu Edwins Rudel. Die einzigen Wandler, die ich kannte, waren mein Vater und die Männer, die für ihn arbeiteten. Sie waren alle gefährlich. War das einfach so, wenn man ein Wolf war? War das die Eintrittskarte für diese Welt?

Ich schaute wieder zu Edwin. Er war nicht der bestaussehende Typ, aber ich war auch nicht der bestaussehende Junge.
 Das Einzige, was zählte, war, dass er mich mochte. Er sagte, dass wir Schicksalsgefährten waren. Ich wollte, dass es stimmte. Und der einzige Weg, wie das funktionieren könnte, war, indem ich tat, was mein Alpha von mir verlangte. Wenn ich es nicht täte, würde ich Edwin verlieren.

„Wer ist der Junge, den ich überzeugen soll?“

Edwin brach in ein besessenes Lächeln aus. Er drehte sich und zeigte in die Ferne, wo ich eine Person allein auf einer Bank sitzen sah. Sie war so klein, dass der schwarze Kapuzenpullover, den sie trug, sie in der Dunkelheit kaum erkennbar machte.

„Ihr wollt wirklich nur mit ihm reden, ja?“

„Ja. Einfach nur reden“, bestätigte Edwin.

„Und danach können wir ein Eis essen gehen?“

„Welche Sorte auch immer du magst“, meinte er enthusiastisch.

„Ich mach’s“, erwiderte ich und wusste gar nichts mehr, am wenigsten das, was ich gerade tat.

Edwin und seine Freunde kicherten wie Hyänen. Das brachte mich aus der Fassung.

„Okay. Wir werden dort drüben auf euch warten. Ich wusste, dass du perfekt bist“, wiederholte er.

Sie liefen auf die Bäume zu und ich ging in Richtung der Bank. Ich konnte nicht glauben, dass ich das tat. Edwin hatte aber gesagt, dass er auch ein Wolfswandler war, oder? Wenn er ihn fragen würde, ob er sich dem Rudel anschloss, vielleicht würde es dann für alle gut funktionieren.

Ich kam näher, aber die Person auf der Bank drehte sich nicht um. Ich war nicht wirklich leise. Er konnte auf jeden Fall hören, wie ich näher kam. Doch erst als ich mich setzte, drehte er sich zu mir um.

Ich sah ihm in die Augen und mein Herz blieb stehen. Ich konnte nicht atmen. Ich wusste, wer das war. Edwin hatte recht. Er war ein Wandler. Er war der berühmteste Wandler der Welt. Und unter den Wandlern war er der meistgehasste.

Mein Kopf drehte sich ruckartig nach vorn, sobald wir Blickkontakt aufgenommen hatten. Was war hier los? Was sollte ich machen?

„Ich beiße nicht“, sagte der Junge mit der leisen Stimme.

„Ja, ähm, ich weiß“, meinte ich und stolperte über meine eigenen Worte.

Ich konnte seinen Blick einen Moment auf mir spüren, ehe er aufstand und weggehen wollte.

„Tut mir leid, war ich unhöflich?“, fragte ich und versuchte ihn, zum Bleiben zu bewegen.

„Nein, schon okay. Ich bin daran gewöhnt.“

„Ich wollte nicht unhöflich sein“, sagte ich ihm.

„Niemand will das“, erwiderte er, sah hinunter, ging aber nicht weg.

„Also bekommst du diese Reaktion oft?“

„Knapp jeden Tag meines Lebens.“

„Liegt es daran, dass du ein Gestaltwandler bist?“

„Weil ich ein Wandler bin. Weil die Leute denken, dass ich lüge, wenn ich sage, dass ich ein Wandler bin. Such dir was aus.“

„Ich glaube dir. Ich meine mit dem Verwandeln.“

„Schön für dich.“

„Ich kenne vielleicht sogar andere Wandler.“

Da sah er auf und drehte sich zu mir.  Er starrte mich an und schwieg. Warum sagte er nichts? Glaubte er mir nicht? War das etwas anderes, was er oft zu hören bekam?

„Ich bin ein Wandler“, sagte ich ihm. „Ich meine, noch nicht. Aber wahrscheinlich.“

„Sicher“, meinte er zweifelnd und doch interessiert.

„Ich sage die Wahrheit. Es gibt viele von uns“, sagte ich und erzählte Dinge, die ich niemals erzählten sollte.

„Viele Gestaltwandler?“

„Ja! Ich weiß, dass du denkst, dass du der Einzige bist, aber das bist du nicht.“

Ich senkte meinen Kopf und spürte das Gewicht dessen, was ich gleich tun würde. Mein Herz schmerzte. Ich wusste nicht warum.

„Würdest du gern ein paar von ihnen treffen?“

„Andere Wandler treffen?“, fragte er misstrauischer.

„Ja. Sie sind nicht wie ich. Sie können sich verwandeln. Zumindest einer von ihnen kann es.“

„Schon klar“, meinte er mich anstarrend.

„Sie sind dort drüben“, sagte ich und zeigte auf die Stelle, wo Edwin und seine Freunde warteten.

Er drehte sich zu den Bäumen.

„Sie sind dort drüben?“

„Ja.“

„Warum sind sie bei den Bäumen?“

„Ich weiß nicht. Wegen dem Wandlerdasein?“

„Ich weiß, wenn Leute lügen. Wusstest du das? Alle Gestaltwandler können das.“

Ich erstarrte. Wovon sprach er? Wenn das stimmte, hätte mein Vater mich heute Abend niemals gehen lassen. Mein gesamtes Leben wäre anders gewesen. Und war sein ganzes Argument nicht die Annahme, dass er „der Einzige seiner Art“ war? Ich entschied mitzuspielen.

„Dann weißt du ja, dass ich die Wahrheit sage. Ich habe Wandlerfreunde und sie haben mich gefragt, dich zu fragen, ob du sie treffen möchtest.“

Das war wahr genug an der Wahrheit – nur für den Fall, dass er wirklich erkennen konnte, ob jemand log.

Er musterte ich. Ich dachte schon darüber nach, mit einem anderen Plan aufzuwarten, als er sprach.

„Okay.“

Ich hielt überrascht inne. Ich konnte es nicht glauben. Es hatte funktioniert. Ich hatte nie gedacht, dass es das würde.

„Dann solltest du mir folgen“, sagte ich und stand auf.

„Okay.“

Ohne etwas zu sagen fing ich an in Richtung der Bäume zu laufen. Er folgte mir.

Alles, was hier passierte, war verrückt. Wie hatte das funktionieren können? Wer sonst hätte einen Fremden mitten in der Nacht davon überzeugen können, ihm in den Wald zu folgen? Edwin hatte recht. Ich war perfekt.

Ich dachte darüber nach. ‘Ich war perfekt.’ Das hatte er immer gesagt. ‘Perfekt’. War es das, was er gemeint hatte? War ich perfekt dafür, einen Fremden davon zu überzeugen, mir in den Wald zu folgen?

Moment! War das sein Plan? War ich Teil irgendeines Planes? Ja.

Warum, hatte er gesagt, wollten sie mit ihm reden? Sollte er sich dem Rudel anschließen? Hatte er es gesagt oder ich?

Der Junge, der mir folgte, war der gehassteste Wandler der Welt. Dass er an die Öffentlichkeit gegangen war, hatte das Leben von allen Wandlern schwieriger gemacht. Wandler wollten ihn tot sehen, und nicht nur die Wolfswandler. Selbst mein Vater hatte Dinge angedeutet.

Der einzige Grund, warum er noch am Leben war, lag darin, dass kein Gestaltwandler dumm genug wäre zu versuchen, eine solch öffentliche Figur zu töten.

Oh scheiße!

„Du musst sofort hier weg!“, sagte ich und drehte mich zu ihr um.

„Was?“, fragte er überrascht.

„Du musst wegrennen. Hier ist es nicht sicher für dich. Mach, dass du wegkommst! Schnell!“

Ich musste es nicht zweimal sagen. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und rannte weg. Ich sah zu, wie er verschwand. Was hatte ich gerade getan? Was war ich im Begriff gewesen zu tun?

Angst durchschoss mich, als ich darüber nachdachte, was ich als Nächstes tun sollte. Sollte ich weglaufen? Wäre das nicht das Klügste in dieser Situation? Oder doch nicht?

War es denn nicht möglich, dass es Edwin nicht interessierte, dass ich ihre Pläne vereitelt hatte? Gab es denn keine Möglichkeit, dass er mich wirklich mochte? Die Wahrscheinlichkeit erschien so gering, dass ich ein Dummkopf hätte sein müssen, es zu riskieren. Und doch bestand eine Chance, oder?

Ich war nicht so verzweifelt, dass Dümmste überhaupt zu tun, oder? Er mochte mich nicht. Er hatte mich nur für den Versuch, jemanden zu töten, benutzt. Ich wusste das. Aber warum lief ich dann immer noch in Richtung der Bäume?

Es war, weil ich unbedingt wollte, dass jemand mir sagte, dass ich etwas wert war. Ich brauchte nur jemanden, der mich mochte. Ich wollte so gern, dass er mich mochte.

„Du dämlicher Idiot!“, schrie Edwin, als ich in die Schatten trat.

Er stand oben ohne vor mir, während seine vier Freunde nur in ihrer Unterwäsche um ihn herumliefen.

„Warum hast du das getan?“, schrie er wutentbrannt. „Er war doch schon da. Verfickt nochmal da!“

„Es tut mir leid. Ich dachte nur, ich komme her, damit wir auf ein Date gehen können.“

„Mit dir auf ein Date, du beschissene Schwuchtel? Du hattest eine Aufgabe. Eine Aufgabe.“

„Es tut mir leid“, sagte ich und brach in Tränen aus.

„Willst du wissen, was Leid ist?“ Edwin drehte sich zu seinen Freunden und nickte. „Ich zeige dir, was Leid ist“, sagte er, als sie sich alle nackt auszogen und sich in ihre Wölfe verwandelten. „Wir können unseren Spaß nicht mir ihm haben. Aber du reichst auch“, meinte er und knöpfte seine Hose auf.

Sein Lächeln war das Letzte, was ich von seiner Menschlichkeit sah. Während ich zusah, fiel der nackte Junge vor mir zu Boden und knurrte vor Schmerz. Ich konnte seine Knochen während der Verwandlung knacken hören. Ich hatte das noch nie gesehen. Es war entsetzlich. Und als Edwins Wolfsaugen sich aufrichteten und meine trafen, wusste ich, dass ich tot war.

Erstarrt sah ich mein Leben vor meinen Augen aufblitzen. Ich war so ein Dummkopf gewesen. Warum habe ich überhaupt gedacht, dass mich jemand lieben könnte? Niemand würde jemals jemanden wie mich mögen. Niemand.

Edwins Wolf sprang als erster. Mein Herz stand still. Das war mein Ende. Zumindest wäre es das gewesen, wenn ein Wolf Edwins Wolf nicht mitten im Sprung abgefangen und ihn aus der Luft geholt hätte.

Der neue Wolf war mächtig und groß. Er schloss seinen Kiefer um Edwins Wolf und schüttelte ihn wie eine Stoffpuppe. Als er Edwin zur Seite geworfen hatte, griff er dessen Freunde an.

„Remy!“, sagte ich verblüfft, erkannte meinen Bruder aber überall.

 

 

Kapitel 1

Hil

 

„Ich glaube, ich habe gerade jemanden umgebracht“, sagte ich, während mir das Blut aus dem Gesicht wich.

„Hil, bist du das?“ Dillons Sorge um mein Wohlergehen war etwas, wofür ich ihn lieben gelernt hatte.

„Ich bin’s. Was habe ich nur getan?“

„Oh mein Gott, hast du dich verwandelt?“

„Ich habe mich nicht verwandelt“, erwiderte ich und ließ die Frustration durchscheinen, die ich als 20 Jahre alter Wolfswandler, der sich immer noch nicht verwandelt hatte, empfand.

„Wo bist du denn überhaupt gewesen? Ich bin vor lauter Sorge fast krank geworden! Wo steckst du?”

„Ich bin in einem Krankenhaus“, erwiderte ich und blickte zu den anderen besorgten Leuten im Wartezimmer.

„Moment, warum bist du in einem Krankenhaus? Geht es dir gut?“

„Mir geht es gut. Ich habe jemandem mein Auto geliehen und er hatte einen Unfall. Auf meinem Telefon ging eine Warnungsnachricht ein, dass es hinten angefahren wurde und ein Krankenwagen gerufen worden war. Dillon, ich glaube, jemand hat versucht, mich von einer Klippe zu drängen.“

„Hil, du musst mir sagen, wo du bist.“

„Ich weiß nicht, wo ich bin. Es ist eine Kleinstadt in Tennessee. Aber es geht mir gut. Ich musste einfach deine Stimme hören. Du darfst niemandem erzählen, dass ich dich angerufen habe.“

„Remy hat nach dir gefragt. Er meinte, dein Vater ist besorgt.“

„Du darfst ihm auf keinen Fall etwas sagen. Versprich mir das.“

„Hil …“

„Versprich es mir!“

„Gut. Versprochen. Aber du darfst nicht noch einmal einfach so verschwinden.“

„Das werde ich nicht. Aber das hier muss ich erledigen. Ich muss ihnen beweisen, dass ich es allein schaffe.“

„Hast du nicht gerade gesagt, dass jemand versucht hat, dich von einer Klippe zu drängen?“

„Schon gut, Dillon. Ich schaffe das.“

„Mir wurde gesagt, dass meine Mutter eingeliefert worden ist“, sagte jemand mit dem heißesten Südstaatenakzent und riss mich von meiner Unterhaltung mit Dillon fort.

Ich sah auf und erblickte einen Typen am Empfangsschalter zwanzig Fuß von mir entfernt. Er hatte pechschwarzes Haar, breite Schultern und einen athletischen Körperbau. Doch viel wichtiger, ich kannte seinen Geruch. ich wusste nicht, wie, aber ich tat es. Er war ein Wolfswandler.

Ich stammte aus einer langen Linie von Wolfswandlern väterlicherseits. Meine Mutter ist ein Mensch. Und ich schätze, ich bin es auch.

Normalerweise war ich auch nur das. Doch etwas passierte mit mir, seitdem ich in diese Stadt gekommen war. Es sind kleine Dinge, zum Beispiel, dass ich mich manchmal stärker fühle, als jemand, der so dünn ist wie ich, sich fühlen sollte. Ich konnte es mir nicht erklären. Und da es so viele Dinge in meinem Leben gab, die ich nicht verstand, fügte ich das einfach der Liste hinzu.

Ein weiterer Punkt war, wie ich mich fühlte, während ich den gutgebauten Kerl da vor mir anstarrte. Ich konnte ihn nur von hinten sehen, aber ich fühlte mich unkontrollierbar zu ihm hingezogen. Als der Typ, der mich ins Krankenhaus gefahren hatte, also zu ihm eilte, stand ich auf und gesellte mich zu ihnen.

„Ich muss los“, sagte ich zu Dillon.

„Verschwinde nicht einfach wieder so. Du musst mir sagen, wo du bist.“

„Ich rufe dich bald an. Versprochen.“

Ich beendete das Gespräch und ging zu den beiden Männern an den Empfangstisch. Marcus, der mich gefahren hatte, drehte sich zu mir um, als ich zu ihnen trat. „Hil, das ist Cali. Dr. Sonya ist seine Mutter.“

Der größere Typ sah mich an. Meine Knie wurden weich. Etwas an seinem Geruch und die Art, wie seine Augen in meine blickten, machten mich schwach.

„Warum hat meine Mutter dein Auto gefahren?“, zischte der hinreißende Mann.

Ich trat zurück, da ich wusste, zu was er als Wolf fähig war. Doch mein rasendes Herz beruhigte sich, als ich die Dinge von seinem Standpunkt aus betrachtete.

Dies hier war kein hormongesteuerter Ausbruch meines Bruders aus Teenagertagen, vor denen ich mich als Kind so sehr gefürchtet hatte. Es war logisch, dass er aufgebracht war. Das wäre ich in seiner Situation auch. Aber konnte er denn nicht erkennen, dass ich ebenfalls besorgt war?

„Sie hatte mein Auto bewundert, als ich in ihre Pension gekommen war. Sie hat es einige Male erwähnt, also fragte ich sie, ob sie mal eine Proberunde drehen will, weil ich heute eigentlich abreisen wollte. Hätte ich das nicht tun sollen? Ist sie keine gute Fahrerin?“

Cali musterte mich eindringlich und ließ dann ab.

„Nein, schon okay. Sie fährt so gut wie jeder andere auch. Du konntest ja nicht wissen, was passieren würde. Entschuldige, wie war dein Name gleich noch mal?“

„Hilaire, aber alle nennen mich nur Hil“, erwiderte ich und reichte ihm meine Hand.

Er ergriff meine kleine Hand und hielt sie länger, als ich erwartet hatte. Die Art, wie er mich ansah, gab mir ein Gefühl der Verletzlichkeit. Es war, als könnte er in mich hineinsehen. Ich hatte keine Geheimnisse, wenn er mich so ansah.

„Schön, dich kennenzulernen, Hil. Ich schätze, ich sollte mich wohl dafür entschuldigen, was mit deinem Auto passiert ist.“

„Sei nicht albern. Dafür gibt es doch Versicherungen. Ich hoffe inständig, dass es deiner Mutter gutgeht.“

Cali ließ meine Hand los und wandte sich ab, unterbrach damit unsere Verbindung. Diesen Verlust zu spüren tat weh.  Einer der vielen Nachteile, wenn man in einer Familie wie meiner aufwuchs, war, dass man nicht die Gelegenheit bekam, Männer wie Cali kennenzulernen. Mein Vater war so beschützerisch, dass ich nicht zur Schule ging. Ich hatte ausschließlich Privatlehrer. Ich hatte nie ein Leben.

Als meinem Vater bewusst wurde, dass ich auf Männer stand, machte er keine große Sache daraus. Vielmehr wurden Jungs eine weitere Sache, vor der er mich beschützen musste. Ich fühlte mich wie seine kleine Prinzessin. Aber nicht auf die Art, dass ich dachte, ich könnte einen Prinzen bekommen. Es war auf die Art, die mir sagte, dass man mir nichts anvertrauen konnte. Das war ein Grund, warum ich auf dieser Reise war, um zu beweisen, dass ich auf mich allein gestellt überleben konnte.

Und wenn ich schonungslos ehrlich wäre, war ein anderer Grund, dass Typen, die wie Cali aussahen und mir solche Gefühle bescherten, nur sehr selten meinen Weg gekreuzt haben. Mit zwanzig Jahren war ich immer noch Jungfrau. Und das würde sich niemals ändern, wenn ich weiterhin unter dem Schutz meines Vaters lebte. Ich musste von dort weg. Doch nun war ich in einem Krankenhaus mitten im Nirgendwo in Tennessee, wusste nicht, was ich tun sollte, wohin ich gehen sollte oder wie ich überhaupt dahin kommen würde.

„Danke für dein Kommen, Marcus. Aber du musst nicht bleiben. Ich bin mir sicher, dass du viel zu tun hast. Ich will dich nicht davon abhalten“, meinte Cali, ohne ihn dabei anzusehen.

„Nein, ich kann hier bleiben, solange du mich brauchst. Sie ist deine Mutter, aber ich mache mir auch Sorgen um sie.“

„Danke. Aber Claude und Titus werden bald hier sein. Du brauchst nicht bleiben“, sagte der gut gebaute Mann geringschätzig.

„Nein, ernsthaft. Ich kann bleiben, solange du mich brauchst.“

Cali drehte sich zu ihm um und schaute ihn mit einem Blick an, der purer Wolf war.

„Geh, Marcus. Ich werde dich darüber in Kenntnis setzen, wie es ihr geht. Ich bin mir sicher, dass Hil ebenfalls zurück will.“

Ich zuckte zurück, als ich meinen Namen in demselben geringschätzigen Tonfall hörte. Wollte er uns nicht hierhaben? War er böse auf mich? War er der Typ Wolf, bei dem die Situation gleich gefährlich werden würde?

Ich legte meine Hand auf Marcus’ Schulter.

„Wir sollten gehen. Cali wird uns sicherlich Bescheid geben, wenn er mehr weiß.“

Cali drehte sich mit einem erleichterten Gesicht zu mir. Ich wusste nicht warum. Lief da irgendwas zwischen den beiden? Hatten sie eine gemeinsame Vergangenheit?

Wohl wissend, dass Cali ein Wolf war, sah ich erneut Marcus an, um ihn eingehender zu betrachten. Ich hatte nicht dasselbe Gefühl, wenn ich ihn ansah. Lag es daran, dass er ein Mensch war?

Körperlich gesehen war er definitiv nicht auf dieselbe Weise mein Typ wie Cali. Marcus war sportlich und nichtsdestotrotz attraktiv. Er hatte auch die gleichen Grübchen wie Cali.

Doch wenn ich Cali ansah, schmerzte meine Brust. Etwas scharrte in mir und wollte sich seinen Weg hinausbahnen. Ich konnte kaum atmen, wenn ich ihm in die Augen sah. Im Vergleich dazu war Marcus ein Schatten.

„Ich kann dich zurück zu Dr. Sonyas Pension bringen“, entgegnete Marcus, aber war zu traurig, um meinen Blick zu erwidern.

„Danke“, sagte ich, als würde ich nicht genauso gern dableiben wollen wie er.

„Noch mal, es tut mir wirklich leid, was mit deiner Mutter passiert ist“, erklärte ich und zog zwar Calis Aufmerksamkeit auf mich, nicht aber seinen Blick.

Er nahm mich kaum zur Kenntnis. Wie ich ihn so ansah, wollte ich meine Arme sehnlichst um ihn schlingen und ihm sagen, dass seine Mutter in Ordnung kommen würde. Aber ihn umgab ein stacheliger Panzer, den ich nicht durchdringen konnte.

Verhielt er sich so, weil er erkennen konnte, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte? Ich wusste nicht viel über Jungs und noch viel weniger über Gestaltwandlerjungs, aber ich wusste, dass Typen, die so heiß waren wie er, sich niemals für Typen interessierten, ganz besonders nicht für solche, die so erbärmlich waren wie ich. Das Einzige, was es noch schlimmer machte, war, dass ich ein Mensch war.

Vielleicht hatte er erkannt, dass ich schwul war, und mochte das nicht. In der Welt, in der ich aufgewachsen war, kam es dem ersten Schritt in Richtung Überleben gleich, seine Schwächen zu verstecken. Meine Schwäche für Kerle war meine Schwachstelle.  Zumindest dachte das mein Vater. Darum tat ich mein Bestes, es zu verstecken.

Doch wenn ich Typen traf, die heißer als die Sünde selbst waren, war das Verbergen meiner Gefühle ähnlich effektiv wie einen Elefant hinter einer Straßenlaterne zu verstecken.  Cali ist so heiß. Und vielleicht mag er keine Elefanten.

Marcus und ich entfernten uns, wie Cali es gewünscht hatte, und wir fuhren schweigend zu der Pension zurück. Den gesamten Weg über sah er von unserer Begegnung mit Cali genauso verwirrt aus wie ich. Als ich erneut darüber nachdachte, fragte ich mich, ob er mich tatsächlich hatte abblitzen lassen. Ich tendierte dazu, unsicher zu sein.

Aber Cali erschien nicht wie ein schlechter Kerl. Gab es nicht die Möglichkeit, dass er einfach nur nicht sehr gesprächig war? Wolfswandler konnten zuweilen so sein, nicht wahr? Vielleicht war er für gewöhnlich einfach ruhig.

Cali schien kein schlechter Kerl zu sein. War es möglich, dass er einfach nicht so kommunikativ war? War er sonst auch so schweigsam?

Oder hatten er und Marcus eine gemeinsame Vergangenheit? Gab es einen Grund, warum die Atmosphäre zwischen den beiden so angespannt erschien? Hatten die zwei etwas miteinander gehabt?

„Ich muss mich für Calis Verhalten entschuldigen. Normalerweise ist er nicht so …“, Marcus hielt inne.

„Ein einsamer Wolf?“, testete ich, wie viel er wusste.

Marcus lachte. „Doch, dieser Teil ist typisch Cali. Er ist sonst einfach nur etwas netter dabei. Du solltest es nicht persönlich nehmen.“

„Und du?“, entgegnete ich und fragte mich, ob Cali wirklich ein einsamer Wolf oder ich über ein Rudel gestolpert war.

„Und ich was?“

„Nimmst du es, ich weißt nicht, persönlich?“

Marcus’ Mund öffnete sich, aber er blieb still. Er brauchte eine Weile, bis er sagte:

„Manchmal. Er und ich sind auf dieselbe Highschool gegangen. Cali war in der Footballmannschaft und die Mädchen haben sich ihm an den Hals geworfen. Wir hatten nicht wirklich denselben Freundeskreis.

„Unsere Mütter sind befreundet, also waren wir oft gezwungen, Zeit miteinander zu verbringen. Ich fühlte mich immer, als würde ich ihn belästigen. Ich schätze mal, dass sich nicht viel geändert hat.“

„Also hatte Cali viele Freundinnen?“, hakte ich nach und konnte meine Absichten nicht verstecken.

Marcus sah mich an und gehörte nun auch zu der endlos langen Reihe an Menschen, die mich durchschauten. Er lachte kurz.

„Lustigerweise gab es zwar einen endlosen Ansturm an Mädchen, aber trotzdem habe ich ihn nie wirklich mit einer von ihnen gesehen. Er ist eher der grübelnde Einzelgänger.“

„Ein einsamer Wolf“, schlug ich erneut vor.

Dieses Mal schaute er mich mit einer Spur Misstrauen an. „Kann man wohl so sagen.“

Da ich wusste, wie empfindlich Wölfe sein konnten, ganz besonders in Gegenwart von Menschen, entschied ich mich dafür, das Thema zu wechseln.

„Er erwähnte zwei Typen, die bald bei ihm sein würden.  Ich nehme an, dass keiner von ihnen sein fester Freund ist?“, fragte ich zögerlich.

Marcus lachte erneut.

„Nein, Claude und Titus sind seine lange verschollenen Brüder.“

„Lange verschollene Brüder?“

„Ja. Letzten Herbst hat Titus Freund einen DNA-Test herumgereicht und es stellte sich heraus, dass die drei denselben Vater haben.“

Ich dachte darüber nach. Ich hatte Calis Mutter getroffen. Sie erschien sehr menschlich. Hieß das, dass Calis Vater ein Wolf war? War er ein Halbwolf wie ich? Hatte er zwei Halbwolfsbrüder? Von allen Orten, an denen ich hätte landen können, war ich ausgerechnet bei einem Halbwolfsrudel gelandet?

„Oh, wow!“

„Genau das dachte der Rest der Stadt auch“, meinte er meine Überraschung falsch interpretierend. „Es war ein richtiger Skandal. Calis Mutter war eine der Personen, über die sich alle das Maul zerrissen haben. ‘Haben alle drei wirklich denselben Vater? Wie kommt es, dass sie von Alter so nah beieinander sind? Wer war dieser Mann?’

„Keine der Mütter sagte etwas. Wie es aussieht, haben sie es nicht einmal ihren Söhnen gesagt. Cali und Dr. Sonya hatten bis dahin ein sehr enges Verhältnis gehabt.  Jetzt verbringt Cali die meiste Zeit am College.“

„Moment, Cali geht aufs College?“

„Ja. Er ist in der Footballmannschaft. Sowohl er und Titus. Letzte Saison hat Titus einen neuen Rekord für gelaufene Yards auf seiner Position aufgestellt und Cali für gekickte Yards.

„Das ist eine sportliche Familie“, sagte ich plötzlich verwirrt.

„Sieht so aus“, entgegnete Marcus mit einem schmerzhaften Blick.

„Ich nehme an, dass du nicht auf die Uni gehst?“, fragte ich in der Annahme, dass er in etwa mein Alter war.

„Ich bin nicht mit der natürlichen Gabe gesegnet, die so viele Leute in dieser Stadt haben.  Wenn es im Wasser war, dann habe ich definitiv nicht davon getrunken“, meinte er lächelnd.

Ich sah weg und dachte über alles, was Marcus mir gerade erzählt hatte, nach. Lag ich etwa falsch? War Cali doch kein Wolfswandler?

Sein Leben schien so normal. Er ging zur Uni und spielte in einer Footballmannschaft. Wolfswandler taten solche Sachen nicht. Sie blieben untereinander und töteten einander in Revierkämpfen.

Zumindest dachte ich, dass sie das taten. Ich war ja kein Wolfswandler, aber ich war mit ihnen aufgewachsen. War das eine weitere Art, wie meine behütete Existenz meine Realität verzerrt hatte? Oder war Cali doch kein Wolf?

Wenn er keiner war, würde das erklären, warum Marcus nicht auf meinen „einsamen Wolf“ reagiert hatte. Ich wusste auch nicht, welche Reaktion ich erwartet hatte, aber ich hatte eindeutig mehr erwartet, als ich bekommen hatte. Entweder war das eine normale Kleinstadt mit stinknormalen Leuten oder ich hatte absolut keine Ahnung, was es bedeutete, ein Wolf zu sein. Ich musste wissen, welches von beidem es war.

„Ich habe von deinem Gebäck gekostet“, sagte ich und wandte mich wieder Marcus zu. „Es ist kein Muss, Football zu spielen, wenn du Sachen machen kannst, die so schmecken. Ich kenne Leute, die für eines deiner Schokocroissants töten würden“, sagte ich ehrlich.

Marcus errötete. Das reichte aus, um in mir den Verdacht zu wecken, dass er an mir interessiert war. Doch es brauchte nur einen Augenblick, in dem ich ihn mir nackt vorstellte, um zu verstehen, dass ich ihn mehr als einen Bruder betrachtete und weniger als eine Person, mit der ich ins Bett gehen wollte.  Bei Cali auf der anderen Seite reichte schon ein Gedanke aus, um mir das Gefühl zu bescheren, dass jemand mein Herz zusammenquetschte. War es eben das, wenn einem das Herz vor Sehnsucht schmerzte?

„Ich weiß es zu schätzen, dass du das gesagt hast“, meinte Marcus und riss mich aus meinen zunehmend ausartenden Fantasien mit Cali. „Gebäck herzustellen ist meine Art zu entspannen.“

„Ich würde einen Arm und ein Bein hergeben, um in irgendetwas so gut zu sein wie du beim Backen. Ich könnte dir nicht mal sagen, wie man ein Ei kocht.“

Marcus lachte. Er musste gedacht haben, dass ich einen Witz mache. Machte ich aber nicht. Als ich aufwuchs, hatten wir immer Hausangestellte und Köche gehabt. Für kurze Zeit hatten wir sogar einen Vorkoster. Es ist schwierig zu lernen, auf sich allein gestellt zu überleben, wenn man zum einen sein Zuhause nicht ohne Begleitung verlassen darf und zum anderen es eine endlose Reihe an Leuten gibt, die dafür bezahlt werden, alles für dich zu erledigen.

Ich wechselte für Rest unserer fünfundvierzig minütigen Reise das Thema und fragte ihn, wie es war, hier aufzuwachsen. Selbst wenn man meine verrückten Wolfswandlersachen mal außen vor ließ, war es immer noch unwahrscheinlich anders als meine Erfahrungen in New York. Sie haben wortwörtlich Glühwürmchen in Einmachgläsern gefangen. Wie kleinstadtmäßig war das bitteschön?

„Als Nächstes wirst du mir gleich erzählen, wie du und deine Freunde im Bach gefischt habt.“

Er sah mich verlegen an.

„Im Ernst jetzt?“

„Du verstehst nicht, wie wenige Dinge es hier gibt, die man tun kann. Aber hast du es schon mal probiert? Es macht genau genommen richtig Spaß.“

„Gut möglich. Auf jeden Fall wird es besser sein, als verlegen vorzugeben, nicht in jeden halbwegs annehmbaren Jungen verknallt zu sein, mit dem deine Eltern eine Spielverabredung angesetzt haben.“

Marcus sah mich voller Erkenntnis an.

„Also stehst du auf Kerle?“

„Wenn du mit auf Kerle stehen meinst, dass ich sehnsüchtig danach verlange, einen in mir zu haben, dann ja“, gab ich mit einem Lächeln zu.

„Das ist cool“, erwiderte er und schien es auch so zu meinen.

„So wie’s aussiehst, warst du wohl noch nie in einem Kerl“, scherzte ich.

Marcus sah weg, ohne darauf zu reagieren. Er verschwieg eindeutig etwas. Wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, meinen Schwulenradar zu verfeinern, hätte ich möglicherweise sagen können, was es war. Der einzige andere Kerl, den ich kannte, der auf Männer stand, war Dillon und er hatte es genauso schwer wie ich, es zu verstecken.

Als wir wieder bei der Pension waren, fragte Markus mich, ob ich noch etwas brauchte, da ich jetzt ja kein Auto mehr hatte. Ich sagte ihm, das ich schon klar käme. Er gab mir seine Nummer und meinte, dass ich ihn anrufen solle, wenn ich etwas bräuchte. Ich war dankbar.

Wenn man mal die Frage beiseitelegte, ob ich nun über ein Rudel Halbwölfe gestolpert war, die von dem heißesten Typ überhaupt angeführt wurden, war es so, dass ich diese Reise unternommen habe, um zu beweisen, dass ich unabhängig und selbstständig sein konnte. Die Wahrheit jedoch war, dass ich dem seit meiner Abreise nicht näher gekommen war. Was würde ich denn jetzt tun, so ganz ohne Auto? Und noch viel wichtiger, was würde ich ohne Geld machen?

Wenn du die Art von Ausflug machst wie ich, kannst du dich nicht auf die Kreditkarte deines Vaters verlassen. Kreditkartenkäufe können nachverfolgt werden. Wenn ich sie verwendete, würde mein Vater genau wissen, wo ich war.

Alternativ dazu könntest du natürlich auch das Familienauto nehmen, das keinen Überwachungssender hat, ein paar Stapel Bargeld einpacken, die dein Vater im Haus versteckt hat, dein Telefon ausschalten und dahin gehen, wo auch immer du willst.

Das war die Variante, für die ich mich entschieden hatte. Allerdings hatte ich das Bargeld im Auto behalten, weil ich dachte, dass es dort am sichersten sei. Hätte ich darüber nachdenken sollen, bevor ich Dr. Sonya erlaubte, es für eine Spritztour auszuleihen? Offensichtlich ja. Aber wie hätte ich ahnen können, dass mein Auto und mein ganzes Geld auf dem Grund eines Gebirgspasses enden würden?

Was sollte ich jetzt nur tun? Ich hatte kein Auto, ich hatte kein Geld und wenn ich mich nicht täuschte, dann hatte Dr. Sonja schon jemand anderen, der heute Abend in mein Zimmer einchecken würde.

Es war nicht so, dass ich überhaupt keine Möglichkeiten hatte. Wenn es hart auf hart kam, könnte ich immer noch meine Kreditkarte verwenden oder zuhause anrufen. Aber das wollte ich nicht tun. Nur einmal in meinem Leben wollte ich meinem Vater zeigen, dass ich nicht vollkommen hilflos war. Ich konnte mich um mich selbst kümmern. Doch je länger mein kleines Abenteuer dauerte, desto mehr fing ich an zu denken, dass es doch nicht konnte.

Ich betrat die Pension und vier Köpfe drehten sich sofort zu mir. Sie sahen wie zwei Pärchen aus, die sich wie für einen Abenteuerurlaub gekleidet hatten.  Sie trugen Wanderstiefel und große Rucksäcke lagen auf dem Boden neben dem Sofa, ich nahm also an, dass dies die von Dr. Sonja erwähnten Besucher waren, die nach mir kommen würden. Ich wusste nicht, was ich ihnen sagen sollte, also sagte ich nichts und lief stattdessen an ihnen vorbei in mein Zimmer.

Hinter meiner geschlossenen Tür fiel ich auf das Bett und starrte an die Decke. Ich fühlte mich so verloren. Ich musste etwas tun, nicht wahr? Ich konnte nicht einfach so daliegen und hoffen, dass sich alles von selbst richtete. Nahmen selbstständige Leute die Dinge nicht selbst in die Hand? Dachten sie nicht darüber nach, was als Nächstes passieren würde und bereiteten sich darauf vor?

Wie gelähmt lag ich mehr als eine Stunde lang da und dachte darüber nach, was ich tun sollte. Ich wusste, dass Dillon mir helfen würde, wenn er könnte, aber unsere Beziehung war nicht dergestalt. Ich war derjenige gewesen, der ihn adoptiert hatte. Dillon war der Sohn meiner Lieblingshaushälterin.

Es gab eine begrenzte Anzahl an Menschen, die wussten, dass mein Vater und Bruder Wolfswandler waren. Unsere Haushälterin war eine von ihnen. Meine Eltern entschieden, dass ich einen Freund brauchte und arrangierten ein Spieltreffen mit ihrem Sohn. Ich hatte das Gefühl, in einen Spiegel zu sehen, als ich Dillon traf, und so entschied ich, dass er das Leben bekommen würde, das ich mir wünschte.

Als er die Highschool abschloss, überzeugte ich meinen Vater ein Stipendienprogramm zu gründen und stellte sicher, dass er es bekam. Ich stellte auch sicher, dass sein Zimmer im Collegewohnheim mit allem ausgestattet war, was er brauchen würde. Das Stipendium enthielt ebenso Taschengeld, er brauchte sich also keinen Job suchen, und er bekam ebenso Zuschüsse für Kleidung, so konnte er sich einen tollen Kerl suchen und ein glückliches Leben leben.

Ich tat das nicht, weil ich irgendetwas von ihm wollte. Er ist mein Freund. Ich wollte einfach, dass er glücklich war. Ich war mir sicher, dass er mir jetzt helfen würde, wenn er könnte. Doch er war in New Jersey und ich kannte den exakten Betrag auf seinem Konto. Dillon zu fragen war keine Option.

Ich hörte ein Klopfen an der Tür, es riss mich aus meinem Gedankenkarussell. Ich riss mich schnell zusammen und setzte mich auf. Seitdem ich mich hingelegt hatte, war es dunkel geworden. Ich kam auf die Füße und schaltete ein Licht an.

„Ja?“, sagte ich und befand mich plötzlich von Angesicht zu Angesicht mit Calis kantigen Wangenknochen und seinem unglaublichen Duft.

„Ich habe mich nur gefragt, ob du bald auscheckst?“, erkundigte er sich mit einer unverkennbaren Last auf den Schultern.

Ich wollte ihn nicht mit meinen unbedeutenden Problemen belasten. Er hatte dank mir genug um die Ohren.

„Ja. Natürlich. Ich schätze, ich habe die Zeit vergessen.“

„Es ist nur, dass jemand für dieses Zimmer eingetragen ist und ich es noch nicht saubergemacht habe …“

„Ich verstehe.“

„Wenn du mehr Zeit brauchst …“

„Nein. Ich habe nicht viel. Ich kann in ein paar Minuten draußen sein.“

Statt zu antworten, wanderte sein Blick über mich. Das bescherte mir ein warmes Gefühl, dass sich tief in meinem Geschlecht einnistete. Er presste seine Lippen zusammen, nickte mir zu und ging wieder nach unten.

Nun, das war es dann wohl. Ich würde eine Entscheidung treffen müssen. Ich warf die paar Habseligkeiten in meine Tasche, schaute mich noch ein letztes Mal im Spiegel an und verließ das Zimmer.

„Ich bin raus“, informierte ich Cali, den ich in der Küche fand.

„Okay, danke“, sagte er und lief hinter mir zum Zimmer hinauf.

Da ich ohnehin nirgendwohin konnte, gesellte ich mich zu den Gästen im Wohnzimmer. Es war ein gemütlicher Ort. Die Möbel hatten Vogelbilder auf den Polstern. Es gab einen kunstvoll verzierten Läufer unter dem Couchtisch davor und Regale voller Bücher und Nippes aus der ganzen Welt umgaben sie.

Ich fragte mich, wie es wohl war, an einem solchen Ort groß zu werden. Es fühlte sich wie ein Zuhause voller Liebe an. Ich wusste, was das bedeutete. Mein Vater war seiner Familie gegenüber äußerst hingebungsvoll. Meine Mutter, mein Bruder und ich waren alles für ihn. Es war der Rest der Welt, der Grund hatte, ihn zu fürchten.

Cali brauchte nur zwanzig Minuten, um zurückzukehren und die neuen Gäste in ihre Zimmer zu bringen. Er sah mich an und für einen Moment hielten wir den Blickkontakt. Doch das war alles. Er war beschäftigt. Ich verstand es. Wie hätte er wissen sollen, was ich durchmachte? Außerdem hatte er echte Sachen, um die er sich kümmern musste.

Als er nach dreißig Minuten wieder das Wohnzimmer betrat und ich mich immer noch nicht vom Fleck bewegt hatte, war mir das unendlich peinlich. Ich konnte ihn nicht anschauen.

„Ist alles okay?“, fragte er mich und zog meinen Blick auf sich.

Ich sah ihn an und Tränen traten in meine Augen. Ich verhielt mich lächerlich. Das wusste ich. Ich hatte andere Möglichkeiten. Es gab nichts über das ich mich beschweren konnte. Und doch saß ich hier und weinte, während derjenige, der vielleicht seine Mutter verlieren könnte, stark blieb.

„Es tut mir leid. Ich werde dir nicht mehr auf die Nerven gehen“, sagte ich und stand auf, schnappte meine Tasche und eilte zur Tür.

„Warte. Stopp!“, befahl er mit einer Stimme, die meine Muskeln unfreiwillig erstarren ließen. Ich schaute in die andere Richtung, konnte mich nicht bewegen, selbst wenn ich gewollt hätte. Was passierte mit mir?

„Du hast kein Auto.  Wo willst du hin?“, fragte er und war sich gar nicht bewusst, welchen Effekt seine Worte auf mich hatten.

„Ich werde ein Taxi rufen.“

„Wenn du das hättest tun können, hättest du das bereits getan. Hast du irgendeinen Ort, an dem du bleiben kannst?“

„Du brauchst dir wirklich keine Gedanken um mich zu machen. Wie geht es deiner Mutter?“

Als ich das ausgesprochen hatte, spürte ich, wie der rätselhafte Griff, den er um mich hatte, nachließ. Davon befreit drehte ich mich um. Alles, was ich sehen konnte, war der Schmerz, der ihn durchzuckte.

„Der Arzt sagte, dass sie wieder in Ordnung kommen wird. Aber ich konnte es kaum ertragen, sie so zu sehen. Sie ist immer so voller Leben, weißt du. Sie dort mit all diesen Schläuchen an ihr liegen zu sehen, konnte ich nicht ertragen.“

Ohne nachzudenken eilte ich zu ihm und ergriff seine Schultern.  Hätte ich vorher darüber nachgedacht, hätte ich es vielleicht nicht getan. Doch als er sich mir nicht entzog, war ich froh, dass ich dem Impuls gefolgt war.

„Der Arzt sagt, dass sie in Ordnung kommt?“

Er nickte bejahend.

„Das ist wirklich gut. Ich kann dir nicht sagen, wie glücklich ich bin, das zu hören.“

So als ob er es bereuen würde, dass er mir einen Blick unter seine Maske gestattet hatte, straffte er sich schnell wieder und trat zurück.

„Danke. Und es tut mir leid, was mit deinem Auto passiert ist. Meine Mutter ist versichert. Die Versicherung wird sich darum kümmern.“

„Ganz im Ernst, mach dir darüber keine Gedanken. Kümmere dich um deine Mutter und alles, was sonst noch bei dir los ist.“

„Ich bin okay. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Hast du irgendeinen Ort, an dem du bleiben kannst?“

Ich fragte mich, was ich ihm erzählen sollte. Ich hatte bereits gesagt, dass ich schon klar kommen würde. Er hatte diese Antwort nicht akzeptiert. Ich entschied mich für die Wahrheit und schüttelte meinen Kopf.

„Dann wirst du hierbleiben“, sagte er freundlich.

„Aber das Zimmer ist vergeben.“

„Du wirst in meinem Zimmer bleiben“, meinte er bestimmt.

Mein Mund klappte auf, während ich ihn anstarrte und mich fragte, was genau das zu bedeuten hatte. Er stellte es schnell klar.

„Ich übernachte im Zimmer meiner Mutter. Mein Zimmer macht nicht viel her, aber …“

„Ach Quatsch, danke. Ich bin sicher, dass es mehr als ausreichend ist“, erwiderte ich erleichtert.

„Ich bräuchte allerding ein paar Minuten, um kurz aufzuräumen und vielleicht auch die Laken zu wechseln“, sagte er und seine hellen Wangen wurden dabei rot.

„Mach dir keine Umstände“, bestand ich.

„Nein, gib mir eine Minute. Ich bin sofort wieder das“, sagte er und lief schnell die Treppen hinauf.

Ich beobachtete seinen Hintern beim Gehen. Verdammt!

 

 

Kapitel 2

Cali

 

 Als ich ihn den Flur entlang zu meinem Zimmer führte, stellte ich mir den Mann vor, der mir folgte. Seine zerzausten lockigen Haare hingen bis zur Hälfte seiner Stirn.  Und seine großen Augen und vollen rosigen Lippen erinnerten mich an eine Kewpie Puppe. Das musste der wohl heißeste Typ sein, den ich je getroffen hatte. Mein Wolf verzehrte sich nach ihm.

Allerdings war das gerade nicht die richtige Zeit, um darüber nachzudenken. Ich musste mich um andere Dinge kümmern. Meine Mutter war im Krankenhaus. Es fiel mir schwer, mir nicht selbst die Schuld dafür zu geben, dass sie dort war.

Seitdem Titus, Claude und ich herausgefunden hatten, dass wir Brüder waren, war die Atmosphäre zwischen meiner Mutter und mir angespannt. Als ich sie damit konfrontierte, hatte sie die Lippen aufeinandergepresst und war davongegangen. Sie wusste es. Mein gesamtes Leben lang hatte sie gewusst, dass ich Brüder hatte, und es mir nicht erzählt. Warum? Wie konnte sie mir das antun?

„Da sind wir“, sagte ich und drehte mich zu dem kleineren, schlanken Mann hinter mir um.

„Bist du sicher, dass das okay ist?“, fragte er, seine Augen zeigten seine Verletzlichkeit.

„Kein Ding“, meinte ich und versuchte all die Dinge zu verdrängen, die mein Wolf mit ihm machen wollte, während ich ihn musterte.

Der hinreißende Typ sah mich weiterhin so an, als wollte er mir noch etwas sagen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was. Ich erwiderte seinen Blick und spürte eine Sehnsucht in meiner Brust. Ich wurde von einem Verlangen überwältigt, ihm die Sachen vom Leib zu reißen und ihn zu ficken, bis er heulte, also schaute ich weg, um mich wieder zu sammeln.

„Denkst du, dass deine Mutter bald wieder heimkommen wird?“, fragte er und zog meinen Blick wieder auf sich.

„Keine Sorge. Du kannst den Raum solange haben, wie du brauchst.“

Hil sah verlegen aus.

„Ich habe nicht deswegen gefragt.“

Ein Blick auf ihn verriet, dass das nicht der Grund war, aus dem er gefragt hatte.

„Genau. Nein, ich bin mir sicher, dass es mindestens ein paar Tage sein werden. Der Arzt meinte, dass sie viel schlimmer aussieht, als es ihr eigentlich geht. Glücklicherweise sind es hauptsächlich Kratzer und Prellungen. Sie ist an vielen inneren Verletzungen vorbeigeschrammt, was das Ganze hätte schwierig machen können. Noch ist sie nicht ganz über dem Berg. Ich gehe morgen früh wieder hin, um nach ihr zu sehen“, erzählte ich und wurde erneut von Reue überwältigt.

„Richte ihr gute Besserung aus.“

Ich betrachtete ihn. Der Schmerz in seinen Augen verriet mir, dass er wirklich dachte, dass es seine Schuld war, was meiner Mutter passiert war.  Ich verstand nicht warum. Er war nicht derjenige gewesen, der sie gerammt hatte oder den Tatort einfach so verlassen hatte. Er war derjenige gewesen, der den Krankenwagen gerufen hatte, der sie gerettet hat.

Ich presste meine Lippen zusammen und nickte, ehe ich mich umdrehte, zur Schlafzimmertür meiner Mutter ging und Hil hinter mir zurückließ. Ich öffnete die Tür am Ende des Ganges und schaute nicht zurück. Ich wollte wirklich gern, aber ich wusste nicht, ob mein Wolf mich weggehen lassen würde, wenn ich es täte. Außerdem wollte ich nicht zu sehr an ihm hängen. Er könnte genauso gut verschwunden sein, wenn ich aufwachte, und ich hatte es satt, mein Herz gebrochen zu bekommen.

Ich hatte Probleme mit dem Vertrauen und es half auch nicht, dass die Person, der ich am meisten vertrauen konnte – oder so dachte ich zumindest -, mich eine Lüge hatte leben lassen. Also gestattete ich mir nicht, Gefühle für Hil zu entwickeln, ganz gleich wie sehr mein Wolf sich zu ihm hingezogen fühlte. Ich musste mich vor ihm schützen. Oder zumindest den menschlichen Teil in mir.

Doch als die Tür hinter mir zu war, stellte ich ihn mir wieder vor. Mein Wolf drehte durch. Mein Schwanz wurde sofort hart, richtig hart. Ich musste ihn drücken, um den Schmerz zu lindern.

Das war nicht das erste Mal, dass ich etwas für jemanden empfand, aber die anderen Male hatte mein Wolf nicht auf diese Weise reagiert.. Ich wusste nicht, was vor sich ging. Es war, als kannte mein Wolf ihn und kämpfte darum, zu seinem Gefährten zu kommen. War das, was Wolfswandler fühlten, wenn sie den Einen fanden?

Ich konnte nie sagen, ob die Dinge, die die Leute über Wolfswandler sagten, stimmten. Es gab viele von uns in der Stadt, aber erst vor kurzem waren wir in der Lage gewesen, ein Rudel zu formen. Es hatte etwas mit einer magischen Barriere zu tun, die ein Fae, der hier lebte, über uns gelegt hatte. Mein Bruder Titus hatte ihn dazu gebracht, sie aufzuheben. Nachdem er das getan hatte, änderte sich das Leben eines jeden Wolfes hier.

Für uns fühlte es sich an, als würden wir eine Maske ablegen und zum ersten Mal überhaupt tief einatmen. Wir konnten jetzt alle Dinge wittern, die wir vorher nicht hatten wahrnehmen können. Damit einher kamen Instinkte und Wünsche, die vorher nicht da gewesen waren. Es stimmte sogar für Wandler, die nur für die Highschool herkamen. Die Barriere des Fae hatte alle Wölfe irgendwie von dem getrennt, wer wir waren.

Ohne die Barriere liefen die Dinge jetzt langsam an. Für die älteren Wölfe war das eine größere Sache als für mich, denn ich hatte erst kürzlich angefangen, mich zu verwandeln. Für mich war alles noch neu. Ich hatte mein Leben nicht mit dem Verzicht verbracht.

Was allerdings ein Problem darstellte, war, dass die Barriere bedeutete, dass es keine älteren Wölfe unter uns gab, die uns sagen konnten, was wir zu erwarten hatten. Wir hatten erst vor kurzem ein Rudel gegründet und unser Anführer war gerade mal ein paar Jahre älter als ich. Er hatte noch nicht einmal gewusst, dass er ein Wolf war, bis er sich aus Versehen verwandelt hatte. Und bis dahin hatte er auch nicht gewusst, dass es Gestaltwandler an sich gab.

Was ging also mit meinem Wolf vor sich? Wer konnte das schon sagen. Und ich wusste auch nicht, wer es mir hätte sagen können.

Was ich allerdings wusste, war, dass ganz egal, wie sehr mein Wolf ihn wollte und wie schön ich ihn fand, er kein Wolfswandler war. Zumindest nahm ich das an.

Etwas an ihm war definitiv anders, das stand außer Frage. Da musste etwas sein. Ihn anzusehen war wie eine Droge, die mich dazu drängte, mich zu verwandeln. 

Das würde ich aber nicht. Nicht einmal hinter der verschlossenen Tür im Zimmer meiner Mutter. Ich wusste noch nicht genau, was mein Wolf alles tun konnte. Würde er einen Weg hinaus finden und dann in mein Zimmer einbrechen, um den Mann für sich zu beanspruchen, der in meinem Bett schlief?

Mein Schwanz zuckte bei dem Gedanken daran, dass er seinen Duft in meinem Bett hinterließ. Nein, ich musste meine Gedanken in eine andere Richtung lenken.

Ich kämpfte gegen jeden einzelnen meiner Instinkte an, zog mein Oberteil und meine Jeans aus und legte mich hin. Anstatt an Hil zu denken, dachte ich daran, wie seltsam es war, hier im Bett meiner Mutter zu sein. Es war seltsam, hier zu sein. Ich hatte nicht mehr darin geschlafen, seit ich ein Kind gewesen war.

Was ich Hil gesagt hatte, stimmte. Der Arzt meiner Mutter, hatte gesagt, dass er dachte, dass meine Mutter vollständig genesen würde. Was ich Hil hingegen nicht gesagt hatte, war, wie schrecklich sie ausgesehen hatte. Lilafarbene Blutergüsse bedeckten ihre helle Haut. Und mit Schmerzmitteln vollgepumpt starrte sie mich an, als wäre ich gar nicht da.

Meine Mutter war immer so stark gewesen. So voller Leben. Früher dachte ich immer, dass sie „zu aufgedreht“ war. Jetzt würde ich alles dafür geben, sie so zurückzuhaben, wie sie war.

Es musste einen Grund geben, warum sie mir nicht gesagt hatte, dass ich Brüder hatte, oder? Und warum weigerte sie sich, mir etwas über meinen Vater zu erzählen, selbst nachdem ich mich verwandelt und herausgefunden hatte, dass ich kein Mensch war? Es musste einen Grund geben.

Aber nichts davon war jetzt wichtig. Das Einzige, was jetzt zählte, war, dass sie gesund wurde. Und ich würde alles tun, was nötig war, damit das geschah.

 

Während ich am nächsten Morgen im Wartezimmer saß, tanzten Bilder durch meinen Kopf. Würde Mama besser aussehen? Schlechter? Versteckten die Medikamente, die sie nahm, eine Kopfverletzung, die sie ihres Elans berauben würden?

Ich hatte die Nacht zuvor kaum geschlafen, während ich darüber nachdachte. Ich war ein Narr, dass ich mit ihr gestritten hatte. Jetzt würde ich alles geben, um es zurückzunehmen.

„Mr. Shearer?“, sagte die stämmige dunkelhäutige Frau hinter dem Empfangstresen.

Ich stand schnell auf und fand mich bei ihr ein.

„Das bin ich“, sagte ich und mein Herz schlug wie wild.

„Sie können jetzt zurückgehen“, meinte sie und sah mich kaum an.

War ihr unruhiger Blickkontakt ein Indiz dafür, dass die Nacht nicht gut verlaufen war? Mir wurde heiß, als ich diese Möglichkeit bedachte.

„Sie wurde in Zimmer 201 gebracht. Das ist im zweiten Stock. Soll ich Ihnen den Weg beschreiben?“

„Sie haben sie verlegt?“

Die müden Augen der Frau begegneten meinen. Einen Moment später sprangen sie wieder nach unten auf das Papier vor ihr.

„Hier steht, dass sie aufgrund einer Verbesserung ihrer Zustandes verlegt worden ist. Das ist etwas Gutes“, meinte sie mit einem geübten Lächeln.

„Danke“, erwiderte ich erleichtert und machte mich auf den Weg zu den Treppen.

Ich mochte den Geruch von Krankenhäusern nicht, besonders nicht mit den sich entwickelnden geschärften Sinnesorganen meines Wolfes. Atmen schmerzte. Jeder Atemzug roch nach Tod. Ich kannte den Geruch nur zu gut.

Ich könnte es nicht ertragen, meine Mutter zu verlieren. Und so sehr ich auch versuchte, nicht darüber nachzudenken, so überwältigte mich der Gedanke, während ich durch die Flure lief. Als ich Zimmer 201 erreichte, griff ich nach der Klinke und hielt inne. Ich musste mich unter Kontrolle bekommen. Das war keine Zeit, um meinen Wolf die Oberhand gewinnen zu lassen. Ich musste ihn zurückdrängen.

Ich musste die volle Kontrolle haben, für was auch immer ich gleich sah. Ich wusste nicht, ob ich es ertragen konnte, wenn Mamas Zustand sich verschlechtert hätte. Das Ganze war ein Alptraum. Aber ich unterdrückte meinen rasenden Wolf, sammelte meinen Mut, klopfte leise und öffnete die Tür. Mit angehaltenem Atem riskierte ich einen Blick hinein.

„Cali?“, sagte eine angestrengte doch bekannte Stimme von drinnen.

„Ja, ich bin’s, Mama.“

„Ich freue mich, dich zu sehen“, sagte sie mit müden Augen und einem Lächeln.

Ich ließ die Tür hinter mir zufallen und lief zur Seite ihres Bettes. Obwohl sie wacher als in der Nacht zuvor war, sah sie fast noch schlimmer aus. All die lilafarbenen Blutergüsse waren noch dunkler geworden. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das ein gutes Zeichen sein sollte, aber hatte sie sie nicht in ein neues Zimmer verlegt, weil es ihr besser ging?

„So schlimm, was?“, meinte meine Mutter, die den Ausdruck auf meinem Gesicht zu deuten wusste.

„Nein, Mama.  Du siehst besser aus.“

Meine Mutter lächelte. „Ich verrate dir ein Geheimnis, Cali. Es steht dir ins Gesicht geschrieben, wenn du lügst. Ein Mutter weiß das“, sagte sie und betonte dabei ihren normalerweise leichten jamaikanischen Akzent.

Stimmte das? Wusste sie, wann ich log? Dieses Mal log ich definitiv.

„Mama, wie ist das passiert?“

Traurigkeit trat in die Augen meiner Mutter. Es war dieselbe, die sie bekam, wenn ich meine kürzlich gefundenen Brüder zur Sprache brachte.

„Hat das etwas mit meinem Vater zu tun?“

Sie sah mich an, blickte mir tief in die Augen.

„Es stimmt doch, oder?“

„Das weiß ich nicht. Und auch du weißt es nicht, es macht also keinen Sinn, weitere Fragen zu stellen.“

„Wovon redest du? Mir wurde erzählt, dass dein Auto von hinten angefahren wurde. Du hättest getötet werden können. Ich habe dich fast verloren. Wenn du immer noch in Gefahr bist, muss ich das wissen.  Wenn dir jemand wegen mir wehtun will …“

Mama nahm meine Hände in ihre. Ich sah sie an und konnte nur all die Schläuche sehen, die an ihren Armen angebracht waren.

„Was passiert ist, war ein Unfall. Mehr war da nicht.“

„Aber was, wenn doch? Du musst mir sagen, wer mein Vater ist. Wenn er jemand Gefährliches ist, muss ich es wissen. Titus, Claude und ich müssen das wissen.“

Zum ersten Mal, seit ich herausgefunden hatte, dass es mehr in meiner Vergangenheit gab, als mir erzählt worden war, sah mich meine Mutter mit Mitgefühl an.  Ich hoffte, dass dem auch eine Erklärung folgen würde. Doch die kam nicht.

„Selbst jetzt sagst du nichts?“

„Cali, es gibt nichts zu sagen.“

So erleichtert ich auch war, dass meine Mutter wieder mehr sie selbst war, so wütend war ich wieder auf sie. Ich verdiente es, die Wahrheit zu wissen. Sie hielt einen Teil dessen, wer ich war, von mir fern.

Vielleicht würde es einige Dinge bei mir erklären, die ich nicht verstand, wenn ich wüsste, wer mein Vater war. Ich wollte meine Mutter anschreien, konnte es aber nicht. Nicht jetzt und vielleicht auch niemals wieder.

„Ich nehme eine Auszeit von der Uni, um mich um die Pension zu kümmern“, wechselte ich das Thema.

„Nein!“, erwiderte sie nachdrücklich.

„Was meinst du mit nein? Wir haben Gäste, die eingecheckt haben. Jetzt, wo das Geschäft langsam in die Gänge kommt, müssen wir uns um das Feedback Gedanken machen.“

„Versprich mir, dass das deine Schularbeit nicht beeinflussen wird.“

„Glaubst du wirklich, dass ich mir gerade Gedanken um die Uni mache? Verstehst du, wo du gerade bist?“