SCHWIERIGKEITEN MIT DER ZWEITEN CHANCE

Kapitel 1

Merri

 

„Du hast mein Team, meine Organisation, deinen Vater und vor allem mich lächerlich gemacht“, sagte der rotgesichtige alte Mann, als seine Spinnennetzadern aufleuchteten und sich unter seinem lächerlich anmutenden weißen Ziegenbart ausbreiteten.

Ich senkte meinen Kopf und ließ meine Gedanken in eine andere Welt abschweifen. Kennt ihr das, wenn ihr von etwas träumt, das ihr tun wollt? Vielleicht ist es ein Ziel, das ihr erreichen wollt, oder dass eure Eltern auf euch sind.

Vielleicht war es nach einem Leben, bei dem du ständig deinen Vater enttäuscht hast, dein Traum, sein Assistent zu sein, während er sein Team zu den NFL-Meisterschaften führt. Gerade als die Uhr heruntertickt, wendet er sich an dich für den Spielzug, der das Spiel gewinnt. Und nachdem du dein Leben lang darauf gewartet hast, ziehst du das aus dem Ärmel, woran du monatelang gearbeitet hast.

„Einen Hail Mary Pass?“, würde er zu dir sagen.

„Es wird funktionieren, Coach“, würdest du ihm unsicher, aber überzeugt, dass es der richtige Spielzug ist, sagen.

„Ich weiß nicht. Das Spiel steht auf der Kippe.”

„Vertrau mir, Coach“, drängst du.

Als er zweifelnd wegschaut, packst du seine Schulter und sagst: „Das wird klappen, Dad.”

Und weil ihr ein Leben lang zusammengearbeitet habt, legt er die Meisterschaft in deine Hände und ruft dem Quarterback zu, der euer Spiel beginnt.

Während die Spieler durchbrechen und sich positionieren, wirft der Quarterback den Ball. Er fliegt durch die Luft, legt 30, 40, 50 Yards zurück. Und genau wie du es dir ausgemalt hast, schüttelt der Receiver seinen Verteidiger ab, springt und schnappt ihn dann aus der Luft, stürzt in die Endzone und gewinnt das Spiel.

Jubel und Konfetti folgen. Die anderen Trainer heben dich siegestrunken auf ihre Schultern. Und dein Vater, der vielleicht Zweifel an dir hatte, sieht dir in die Augen und nickt, als wollte er sagen, das ist mein Sohn und ich bin stolz. …Oder na ja, du weißt schon, irgendein weniger eigenartig spezifischer Traum als dieser.

Nun, ich bin nicht zu stolz, zuzugeben, dass das mein Traum gewesen sein könnte. Ich war nie der Liebling meines Vaters. Man könnte sogar sagen, dass mein Vater mich so ziemlich für eine Enttäuschung hält.

Ja, ich bin der Assistenztrainer meines Vaters. Und nach einer herausragenden Karriere als Division-2-Trainer geschah das Wunder, ‚“für ein NFL-Team angeheuert zu werden‘„. Doch hier endete mein Traum auch schon. Denn nach zwei Jahren, in denen es bergab ging, steht die Karriere meines Vaters möglicherweise kurz vorm Ende, bevor sie wirklich begonnen hat.

Schlimmer noch, als wir unser letztes Spiel der Saison spielten, das über unsere Playoff-Chancen entschied, ignorierte mein Vater mich völlig und rief einen Spielzug aus, der uns das Spiel kostete.

Das war in Ordnung. Unser Team war es gewohnt, zu verlieren. Es ist, wie es ist. Aber plötzlich, befreit von der Spielvorbereitung und allem anderen, das mit Football zu tun hatte, kam mir etwas anderes in den Sinn. Nachdem ich meinen Freund schon seit Monaten ignorierte, erinnerte ich mich daran, dass sich unsere Beziehung in Schieflage befand. Wie die Trainerkarriere meines Vaters ging sie den Bach herunter.

Während mich diese Gedanken überwältigten, geschah etwas Unerwartetes: Mein Gesicht erschien auf dem Großbildschirm. Das war schon einmal passiert. Wenn Spiele übertragen werden, suchen die Kameramänner immer nach Reaktionsaufnahmen.

Das einzige Problem diesmal war, dass sie sich auf mich konzentriert hatten, weil ich, wie ein Weltklasse-Schwuler, weinte. Ich hatte es nicht einmal bemerkt. Und falls du gedacht hast, dass es im Baseball keine Tränen gibt, kann ich dir hiermit versichern, dass es mit der Ausnahme, dass dein Sohn gerade die NFL-Meisterschaft gewonnen hat, definitiv keine Tränen im Football gibt.

„Du hast verdammt nochmal geweint? Auf meinem Footballfeld? Was für eine verdammte schwule Scheiße ist das?“

Der Manager des Teams schaute zum Teambesitzer, wissend, dass er soeben eine Grenze überschritten hatte. Natürlich sagte er nichts dazu. Der Teambesitzer hätte genauso gut seine Hand im Arsch des Managers haben können, in Anbetracht dessen, zu welchem Grad der Manager eine Marionette war.

„Du bist eine Schande für mein Team. Und das will etwas heißen, wenn man bedenkt, was für eine verfickte Blamage diese ganze Saison war. Aber weißt du, warum sie eine Blamage war? Ich sagte, weißt du, warum sie eine Blamage war?“, fragte er mich.

„Weil unser Blitz schwach ist. Wir haben nicht genug Tiefe, um Verletzungen auszugleichen. Und unser Quarterback kann keinen Pass landen, selbst wenn sein Leben davon abhinge?“

Der 72-jährige Mann verzog angewidert das Gesicht.

„Nein, du Stück Scheiße, Alleswisser, Tunte. Du verfickte schwächliche Memme, Schwuchtel. Es liegt daran, dass dein Vater von saudummen Assistenztrainern umgeben ist, die lieber die Spieler in der Dusche anstarren würden, anstatt ein Footballspiel zu coachen.“

Ein heißes Kribbeln durchfuhr mich. Jeder Muskel in meiner Brust verkrampfte sich und machte es mir schwer zu atmen. Er hatte es gefunden. Die Sache, die ich am meisten befürchtet hatte, zu hören zu bekommen, spie er mir wie Gift entgegen.

Ich war nicht immer offen bekennend schwul gewesen. Ich war der Sohn eines Footballtrainers. Seit ich ein Kind war, arbeitete ich bei meinem Vater und begleitete ihn in die Umkleideräume. Es gab Zeiten, in denen er seine Endspielansprache hielt, während die Hälfte des Teams nackt war. Das ist einfach, was im Football passiert, ob auf College-Ebene oder bei den Profis.

Würde sich also etwas ändern, wenn alle wüssten, dass ich schwul bin? Sicherlich wäre ich nicht mehr in einer Umkleidekabine willkommen. Vertrauen war ein wichtiger Bestandteil des Spiels. Wir mussten darauf vertrauen, dass sich die Spieler ausreichend auf jedes Spiel vorbereiteten. Und die Spieler mussten darauf vertrauen, dass wir ihre herumbaumelnden Schwänzen nicht begafften und an sie dachten, wenn wir nachts allein waren und uns einen runterholten.

Kurz gesagt, Schwule waren im Football nicht willkommen. Aber hier war ich, der offen schwule Sohn eines Verlierertrainers, dessen Heulen auf jedem Fernsehgerät in Amerika übertragen wurde. Ich fühlte mich gedemütigt.

So lange hatte ich versucht, der Mann zu sein, den sich mein Vater von mir wünschte. So lange hatte ich im Bett gelegen und davon geträumt, dass mein Vater mich endlich so behandelte, als wäre er stolz, anstatt sich für mich zu schämen. Doch immer wieder enttäuschte ich ihn.

Ich übersah Dinge, die ich hätte bemerken müssen. Ich weinte im nationalen Fernsehen und gab Leuten wie dem Teambesitzer Munition, die sie Entlassungsgesprächen und Vertragsverhandlungen verwenden konnten.

Als ich die Tränen wieder aufkommen fühlte, tat ich alles, was ich konnte, um sie zurückzuhalten. Ich konnte jetzt nicht weinen. Nicht hier. Nicht jetzt. Ich musste das wie ein Mann durchstehen. Ich musste der Sohn sein, den mein Vater wollte.

Also, während der Besitzer meine Sexualität und meine Intelligenz beschimpfte und alles tat, um mich zum Aufgeben zu bringen, biss ich mir auf die Lippe. Ich wackelte mit den Zehen. Ich tat alles, um mich von dem Gedanken abzulenken, der im Hinterkopf saß: ‚Was er über mich sagte, war richtig. Ich gehörte nicht hierher.‘

‚“Weine nicht, Merri. Du wirst nicht weinen!‘„, sagte ich verzweifelt zu mir selbst und wollte, dass es wahr wurde.

Ich konnte das schaffen. Ich konnte das durchstehen. Und wenn ich das tat, würde ich beweisen, dass ich hierher gehörte. Ich würde meinem Vater und allen anderen zeigen, dass ich kein Versager war. Ich war keine Schande.

Ich werde ihnen zeigen, dass ich genauso zu Football gehöre wie jeder andere. Und als die feuchten Streifen langsam meine Wangen herunterrollten und mein Herz brach, wusste ich genau, wie ich es tun würde.

 

 

Kapitel 2

Claude

 

Als das frühe Morgenlicht die Berge überflutete und die Wolken weiß färbte, füllte Nebel die Luft. Ich dehnte ein letztes Mal meine Oberschenkelrückseite, nahm einen tiefen Atemzug und begann meinen Lauf. Ich fand sowohl beim Atmen als auch beim Tempo meinen Rhythmus, mein Geist beruhigte sich. Dieser Morgen war es. Ich hatte so lange darüber nachgedacht, und heute war der Tag.

Ich bog um die Bergstraßen und kam in die Nachbarschaft. Noch einmal ging ich meinen Plan durch. Hier begann Cage normalerweise seinen Lauf. Zufällig wollte ich ihm begegnen, ihn einladen, sich mir anzuschließen und es dann tun.

Es stand außer Frage, dass sich etwas in meinem Leben ändern musste. Als ich zuerst wieder nach Hause gekommen war, hatte ich die Isolation genossen. Ich hatte Zeit zum Nachdenken gebraucht. Aber zwei Jahre davon waren zu viel gewesen.

Ja, ich hatte meine Facetime-Anrufe mit Titus und Cali, aber das reichte nicht aus. Wenn überhaupt, hatte das Kennenlernen meiner neuen Brüder dieses Gefühl geweckt. Ich wollte sozialer sein. Ich begann, es zu brauchen.

Warum hatte ich mich entschieden, auf Cage zuzugehen?

Es lag daran, dass wir uns in einer ähnlichen Lebensphase befanden. Seit wir vor zwei Jahren die Universität abgeschlossen hatten, hatten wir ähnliche Entscheidungen getroffen. Von allen Menschen in dieser kleinen Stadt konnte ich ihn mir am ehesten als Freund vorstellen.

Außerdem waren er und sein Freund das Zentrum der Freundesgruppe meiner Brüder. Cage und Quin veranstalteten viele Spieleabende. Als Cage erstmals in die Stadt gezogen war, hatte er mich eingeladen. Aber nachdem ich ein paarmal abgesagt hatte, hörten die Einladungen auf.

Schritt eins, Cage zufällig begegnen. Schritt zwei, ihn einladen, sich meinem Lauf anzuschließen. Schritt drei, beiläufig den Spieleabend erwähnen und Interesse bekunden, dabei zu sein. Es schien so einfach. Und doch war es erst jetzt, Wochen nachdem ich den Plan entwickelt hatte, dass ich den Mut aufgebracht hatte, es zu versuchen.

Vielleicht sah es so aus, wenn man am Ende der Fahnenstange angelangt war; ein morgendlicher Lauf in der Hoffnung, um etwas zu bitten, das man verzweifelt vermisste: menschliche Verbindung und einen Freund.

Ich tat mein Bestes, nicht zu sehr darüber nachzudenken, beschleunigte mein Tempo und umrundete die Straßen des Viertels. Mit klopfendem Herzen kam Cages Haus in Sicht. Ich hatte es zeitlich richtig abgepasst, ich konnte sehen, wie Cage sich in der Einfahrt dehnte.

Als ich hinsah, schmerzte meine Brust. Gefangen unter einer Lawine von Panik, rang ich um Atem.

Ich konnte das nicht. Nicht jetzt. Nicht heute. Und genau in dem Moment, als Cage hochschaute und mich bemerkte, wie ich seine Straße hinaufjoggte, drehte ich um. Ich änderte die Richtung, als wäre es von Anfang an mein Plan gewesen, und lief in die entgegengesetzte Richtung.

Ich war ein Feigling. Daran bestand kein Zweifel. Aber schlimmer noch, ich war allein und würde allein bleiben. Warum kam ich nicht aus dieser Situation heraus? Was stimmte nicht mit mir?

Zurück zu Hause stieg ich die Treppe zur Dusche hinauf, stand nackt da und das Wasser sammelte sich in meinen lockigen Haaren. Wie war ich zu dieser Person geworden? Die Universität war so anders gewesen. Ich hatte Freunde und ein Leben gehabt. Jetzt, zurück in einem kleinen Städtchen in Tennessee, war ich …

„Komm runter, wenn du fertig bist“, sagte meine Mutter und klopfte an die Badezimmertür. „Ich habe eine Überraschung für dich.“

Zurück im Hier und Jetzt sah ich auf. Meine Mutter hatte eine Überraschung für mich? Was meinte sie damit?

Ich drehte das Wasser ab, kleidete mich an und öffnete die Badezimmertür. Sofort traf mich der Geruch von geröstete Arabica-Bohnen. Gott, war das gut. Aber ich hatte die Kaffeemaschine nicht eingeschaltet.

„Überraschung!“, sagte meine Mutter, nachdem ich die Treppe hinuntergegangen war und die Küche betrat.

In der einen Hand hielt sie eine Kaffeetasse. In der anderen einen Muffin, in dem eine brennende Kerze gesteckt war.

„Was ist das?“

„Wir feiern“, sagte meine Mutter enthusiastisch, ihre braune Haut glänzte im Kerzenlicht.

„Was feiern wir?“, fragte ich und fragte mich, ob ich einen Geburtstag vergessen hatte.

„Wir feiern, dass du in dein neues Geschäft ziehst.“

Ich lächelte trotz alledem.

„Das ist wirklich keine große Sache, Momma.“

„Natürlich ist es eine große Sache. Du hast ein Jahr lang aus unserem Wohnzimmer gearbeitet, und jetzt bekommst du dein eigenes Büro.“

„Das ich mir mit Titus teilen werde“, erinnerte ich sie.

„Was macht das schon? Du bist jetzt ein erfolgreicher Geschäftsinhaber und hast dein eigenes Büro.“

„Das ich teile.“

„Claude, nimm den Muffin“, sagte sie und reichte ihn mir. „Und den Kaffee. Ich habe Marcus gefragt, welche Sorte du magst. Er sagte mir, das ist deine Lieblingssorte.“

Ich lächelte. „Danke, Momma.“

„Gern geschehen“, sagte sie lächelnd. „Ich habe noch ein paar Minuten, bevor wir losmüssen, warum setzen wir uns nicht und genießen zusammen einen Kaffee.“

„Oh oh“, sagte ich und nahm Platz.

„Was, oh oh? Da gibt’s kein oh oh. Kann eine Mutter nicht ein paar Minuten mit ihrem gutaussehenden Sohn verbringen?“

„Natürlich, Momma“, sagte ich und setzte mich. „Entschuldige. Worüber möchtest du reden?“

Momma sah mich verschmitzt an.

„Nun, da du fragst, gibt es irgendwelche Mädchen in deinem Leben, von denen du mir erzählen möchtest?“

„Momma!“

„Oder Jungs. Ich weiß, dass heutzutage jeder bisexuell ist.“

„Momma, was lässt dich denken, dass ich jemals an so etwas interessiert wäre?“

Sie warf mir einen Blick zu, der fragte, wen ich wohl damit täuschen wollte.

„Nein Momma, im Moment gibt es keine Mädchen oder Jungs in meinem Leben.“

„Und warum nicht?“, fragte sie lehnte sich vor.

„Ich spüre einen Vortrag kommen.“

„Da kommt kein Vortrag. Ich will nur sagen …“

Ich seufzte.

„Ich will nur sagen, dass du klug und nett bist, und jetzt bist du Geschäftsinhaber.“

„Da haben wir’s.“

„Es gibt keinen Grund, warum dir die Leute nicht die Tür einrennen sollten.“

„Vielleicht will ich nicht, dass die Leute mir die Tür einrennen.“

„Deine Momma hatte Jungs, die ihr die Tür einrannten“, sagte sie stolz.

„Und schon sind wir beim Thema Dinge, die ich nicht wissen muss …“

„Du solltest dankbar sein, dass deine Momma heiß war.“

„Momma!“

„Woher denkst du, hast du dein gutes Aussehen?“

„Ich denke, dieses Gespräch ist vorbei“, sagte ich und stand auf.

„Es ist vorbei, wenn du irgendeinen heißen Feger mit nach Hause bringst, den du mir vorstellst. Ich habe Jungs in mein Zimmer geschmuggelt, seit ich sie durch mein Fenster bekommen konnte. Warum klettert Marcus nicht ständig aus deinem Fenster?“

Ich drehte mich zu ihr um. „Ich lebe im zweiten Stock!“

„Claude, du musst dich den Menschen öffnen. Jeder mag dich. Gib einfach jemandem eine Chance. Du bist zu jung und gutaussehend, um ein einsamer, alter Mann zu sein“, sagte sie mir, als ich mit meinem Kaffee hoch in mein Zimmer ging und die Tür hinter mir schloss.

Ich musste zugeben, sie lag nicht ganz falsch. Ich meine, sie lag falsch mit der bisexuellen Sache und mit Marcus. Er war nur mein Kaffeelieferant. Aber sie hatte recht, dass sich etwas ändern musste.

Das war nicht das Leben, das ich mir vorgestellt hatte, als ich von der Universität abging. Sicher, ich hatte ein florierendes Geschäft im Aufbau und ich arbeitete mit Titus zusammen. Aber das war nur von Frühling bis Herbst. Den Rest des Jahres war der einzige Zeitpunkt, an dem ich mich nicht leer fühlte, wenn ich bei Marcus im Popup-Café einen Kaffee trank. Es musste sich etwas ändern.

Ich wartete meine üblichen fünf Minuten, bevor wir gehen mussten, lief dann die Treppe hinunter und nahm die Autoschlüssel. Da meine Mutter den ganzen Tag in der Schule war, teilten wir uns ein Auto. Das funktionierte gut, wenn man in Betracht zog, dass ich nachts sowieso nirgendwohin ging. Aber als ich sie heute Morgen fuhr und sie dort weitermachte, wo sie aufgehört hatte, überdachte ich unsere Vereinbarung.

Ich setzte Momma ab und begab mich auf den Weg zu meinem neuen Büro, fuhr auf den Parkplatz und setzte mich. Ich starrte auf die kleine Blockhütte und erwartete, mehr zu fühlen, als ich tat. Momma lag nicht falsch, ein Büro zu haben, von dem aus wir unser Geschäft betreiben konnten, war ein Grund zum Feiern. Aber da mein Geschäftspartner noch sein Frühlingssemester beendete, war ich der Einzige hier.

Ich stieg aus dem Auto, ging den schmutzigen Pfad zur Tür. Der Ort war die ultimative Hütte im Wald. Umgeben von perfekten Kiefern, die noch immer feucht vom Morgen waren, blickte ich durch die Bäume auf den flachen Fluss weniger als dreißig Meter entfernt.

Dieser Ort war ein ausgezeichneter Fund gewesen. Das Einzige, was ihm ewig fehlen würde, war Laufkundschaft. Aber mit dem Ausgangspunkt unserer Touren weniger als vierhundert Meter entfernt, würden wir mehr Touren an einem Tag unterbringen können. Es anzumieten machte viel Sinn.

Ich schloss die Tür auf und schaute mich um, fühlte seine Leere. War das eine gute Idee? Wie viel mehr Isolation brauchte ich? Könnte ich den Rest meines Lebens hier in dieser Stadt arbeiten?

Schnell wischte ich eine Träne von meiner Wange, straffte mich und wurde vernünftig. Ich hatte ein Geschäft gewollt und jetzt hatte ich es. Wenn ich mich öffnen und jemanden in mein Leben lassen wollte, konnte ich das auch.

Ich konnte nicht mehr anzweifeln, dass ich es brauchte. Es gab einen Teil von mir, der das Gefühl hatte, zu zerbrechen, wenn ich dem nicht nachgab. Ich musste nur herausfinden, wie ich die Griff lösen konnte, der mein Herz verbarg.

Ich wusste nicht, warum ich mich immer so von Menschen zurückzog, aber ich würde das durchbrechen. Ich würde jemanden hereinlassen und zusammen würden wir glücklich sein.

Ich konnte das tun. Ich musste das tun. Und als ich eine weitere Träne von meiner Wange wischte, hörte ich ein Klopfen an der Tür, das mich herumdrehen ließ.

„Merri!“, sagte ich schockiert, seine stahlgrauen Augen mich erneut anblicken zu sehen.

 

 

Kapitel 3

Merri

 

„Hey Claude“, sagte ich, als wäre es nicht zwei Jahre her, dass ich ihn gesehen hatte.

Gott, sah er gut aus. Nicht so, als hätte ich vergessen, wie seine prächtigen Augenbrauen seinen kantigen Kiefer und die vollen Lippen einrahmten. Es war eher so, dass ich vergessen hatte, wie es sich anfühlte, all das anzusehen.

Als ich ihn im ersten Jahr auf dem College zum ersten Mal sah, war das der letzte Beweis, den ich brauchte, um zu erkennen, dass ich nicht hetero war. Die Hautfarbe des Mannes war wie Milchschokolade. Wie konnte man nicht daran lecken wollen?

Claude schüttelte den Kopf, als könnte er kaum glauben, was er sah.

„Was machst du hier?“, fragte er fassungslos.

„Ich war in der Gegend. Dachte, ich schaue mal vorbei.“

„Du bist in Tennessee!“, sagte er, während er immer noch versuchte, alles zusammenzufügen.

„Was? Hat Tennessee keine Nachbarschaften?“, witzelte ich.

„Nein, ich meine, du lebst in Oregon.“

„Eigentlich bin ich jetzt in Florida.“

„Was immer noch nicht in der Nähe von Tennessee ist.“

Ich lächelte. „Ertappt.“

„Also, warum bist du hier?“

„Ich dachte, ich sage mal ‚Hi‘.“

„Ich habe gestern die Schlüssel zu dieser Hütte bekommen.“

„Ist der Ort hier neu?“, fragte ich und sah mich in der kleinen Hütte um. „Du leitest eine dieser Wildwasser-Raftingtourfirmen, richtig?“

„Ja. Woher weißt du das?“

„Du hast eine Website“, erklärte ich ihm, während ich den Platz erkundete.

„Natürlich. Und ich habe diese Adresse darauf angegeben.“

„Bingo.“

„Okay, das erklärt, wie du den Ort gefunden hast. Aber das sagt mir immer noch nicht, was du hier machst.“

Ich sah zu meinem alten Freund zurück und überlegte, womit ich anfangen sollte. Es war viel passiert zwischen uns, bevor er mir sagte, dass er frühzeitig seinen Abschluss machen und das Team verlassen würde. Und ich gebe zu, dass ich sein Weggehen nicht gut verkraftet habe.

„Ich bin hier, weil ich einen Vorschlag für dich habe“, sagte ich mit einem Lächeln.

„Und welcher wäre das?“

„Ich weiß nicht, ob du es weißt, aber mein Vater ist der Cheftrainer bei den Cougars geworden.“

„Das wusste ich nicht“, sagte er auf eine Weise, die mir auch zeigte, dass es ihn nicht interessierte.

„Okay. Er ist Trainer geworden. Und ich wurde sein Assistent.“

„Wie an der Uni?“

„So in etwa. Obwohl die Profiliga wirklich anders ist. Wenn ich dir manche Dinge erzählen würde …“ Ich blickte auf und hielt inne beim Anblick seiner gleichgültigen Augen. Ich schaute wieder nach unten. „Aber darum geht es nicht.“

„Um was geht es dann?“, fragte er kalt.

„Es geht darum, dass  die Position als Cheftrainer teils wegen dir bekommen hat.“

„Verstehe.“

„Das überrascht dich nicht?“

„Wir hatten eine gute Saison.“

„Wir hatten drei gute Saisons. Alle dank dir.“

„Ich weiß immer noch nicht, was du hier machst.“

Der entscheidende Moment war gekommen und ich rang um Luft. „Ich bin hier, weil ich dich zu einem Training einlade.“

„Zu einem was?“, fragte Claude überrascht.

„Du weißt schon, einem Probetraining für die Mannschaft.“

Claudes Anspannung ließ nach.

„Für die Cougars?“, fragte er verwirrt.

„Ja“, sagte ich aufgeregt. „Papa weiß, dass er einen Großteil seines Erfolgs dir zu verdanken hat, und er denkt, du hättest das Zeug, in der Profi-Liga zu spielen.“

„Merri, ich habe keinen Football mehr angefasst seit …“, er blickte weg, um sich zu erinnern.

„Seitdem du uns unseren dritten Divisionstitel geholt hast?“

„Ja.“

„Du hast es einfach hingeschmissen und nie wieder angefangen was?“

„Welchen Sinn hätte es gemacht?“

„Vermisst du es nicht? Du warst so gut da draußen. Wie du immer eine Lücke gefunden und bis zum perfekten Moment gewartet hast, um den Pass zu werfen …? Es war unglaublich.“

„Das gehört meiner Vergangenheit an.“

„Aber das muss nicht sein. Ich bin hier und sage dir, dass du es wieder haben könntest, wenn du willst. Ich biete dir eine Einladung zur Rückkehr. Ich weiß, dass du es geliebt hast. Ich bin sicher, du würdest es wieder lieben“, sagte ich und fragte mich, ob ich immer noch von Football sprach.

Claude blickte mich an, ohne viel preiszugeben. Ich spürte, wie meine selbstsichere Fassade unter der Hitze seines Blickes schmolz. Er hatte immer diese Art, durch mich hindurchzusehen. Ich war mir nicht sicher, wie er das machte.

„Hör zu, Claude“, sagte ich, und sah überall hin, nur nicht in seine Augen, „ich weiß, ich habe nicht das Recht, irgendetwas von dir zu verlangen, besonders in Hinblick auf die Art, wie es zwischen uns geendet hat. Aber es würde mir viel bedeuten, wenn du es in Erwägung ziehst. Ich bin gerade wirklich nicht in einer guten Position mit dem Team …“

„Also geht es hier um dich?“

„Es geht um uns … Ich meine, was wir hatten. Wir hatten damals etwas Gutes am Laufen, oder? Ich war dein Quarterback-Coach und Trainer. Du warst der Starspieler. Du hast gestrahlt und alle haben dich geliebt.“

„Das war nicht der Grund, warum ich gespielt habe.“

„Warum hast du dann gespielt?“, fragte ich und witterte eine Chance.

„Das spielt keine Rolle. Dieser Teil meines Lebens ist vorbei.“

„Aber das muss nicht sein. Wie gesagt, ich weiß, dass du mir nichts schuldig bist. Aber ich bitte dich, es zumindest zu erwägen. Es würde mir viel bedeuten. Papa auch. Wir würden beide liebend gerne wieder mit dir arbeiten. Und selbst nach zwei Jahren weiß ich, dass das, was du hattest, immer noch da drin ist. Du warst einfach so gut“, sagte ich und endete mit einem Lächeln.

Ich konnte sehen, dass ich zu ihm durchgedrungen war, als sein Blick schließlich sank.

„Ich werde darüber nachdenken.“

Ich preschte vor und schlang meine Arme um ihn.

„Ich wusste, dass du es tun würdest. Ich wusste es“, sagte ich überglücklich. „Du warst damals großartig und du wirst wieder großartig sein“, sagte ich ihm, als ich ihn losließ.

„Ich habe nur gesagt, ich werde darüber nachdenken“, sagte er kühl.

„Natürlich. Richtig“, sagte ich und riss mich zusammen. „Ich bin einfach gerade wirklich glücklich. Sieh mal, ich werde noch ein paar Tage in der Stadt sein, bevor ich zu meinem nächsten Treffen aufbreche. Wie wäre es, wenn ich dich in einem oder zwei Tagen anrufe? Wir könnten essen gehen. Das geht auf mich.“

„Du hast meine Nummer?“, fragte Claude verwirrt.

„Jeder hat deine Nummer.“

„Was?“

„Es ist doch die von der Website, oder?“

„Oh. Ja.“

„Dann habe ich sie“, sagte ich und ging zur Tür. Kurz bevor ich hinausging, hielt ich inne. „Hey, erinnerst du dich an das zweite Jahr, als wir diesen Campingausflug zum Big Bear gemacht haben?“

„Das ist schwer zu vergessen. Als wir ankamen lagen fünfzehn Zentimeter Schnee. Es war mitten im Frühling.“

Ich lachte. „Ja. Und wir haben dann eine Wanderung um diesen See gemacht?“

Claude dachte einen Moment nach und nickte. „Als wir dort ankamen, schneite es leicht.“

„Erinnerst du dich, wie die Sonne in einem perfekten Winkel stand und das Wasser funkeln ließ? Und erinnerst du dich an die schneebedeckten Berge im Hintergrund?“

„Ja“, sagte er und verlor sich in der Erinnerung.

„Weißt du, ich bin seitdem in vielen Städten gewesen und das ist immer noch der schönste Anblick, den ich je gesehen habe. Wir hatten ein paar gute Zeiten zusammen, nicht wahr?“

Claude grunzte nachdenklich.

„Ich rufe dich an“, sagte ich ihm, bevor ich meinen einst besten Freund einen letzten Blick zuwarf und dann hinausging.

 

 

Kapitel 4

Claude

 

Ich starrte dem Grund, warum ich die Universität vorzeitig verlassen hatte, hinterher, wie er in ein Mietfahrzeug stieg und davonfuhr. Mein Herz klopfte wild. Eine prickelnde Hitze überflutete meine Haut und ließ meine Knochen erzittern. Ich rang nach Luft und atmete tief ein.

Das hielt ich nicht aus. Im Büro fühlte ich mich eingesperrt, ich musste laufen. Ich sprang zur Tür, riss sie auf und bevor ich es wusste, rannte ich mit all der Kraft und Geschwindigkeit, die ich hatte. Ich verlor mich zwischen den Bäumen und das Einzige, an was ich denken konnte, war das Gefühl, wie meine Beinmuskeln mich vorwärtstrieben.

Ich spürte den Wind, wie er an mir vorbeipeitschte, als ich meine Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte. Um mich herum verlangsamte sich die Welt. So hatte ich mich gefühlt, wenn ich den Football in der Hand hielt und die Verteidigungslinie versuchte, an unserer Offensive vorbeizukommen. Wenn ich je eine Geheimwaffe hatte, dann war es das.

Ich sprintete, so lange ich konnte. Als ich langsamer wurde, verfiel ich in ein immer noch zügiges Tempo. Ich hätte nicht gedacht, wie sehr mich das Wiedersehen mit Merri mitnehmen würde. Einst hatte er so viel für mich bedeutet. Aber nachdem er mir gezeigt hatte, wer er wirklich war, wurde mir klar, dass ich ihn nie gekannt hatte.

An der Uni witzelten die anderen Spieler, ich sei so gut, weil ich ein Roboter sei, programmiert, um einen Football zu werfen. Das implizierte, ich hätte kein Herz. Ich hatte ein Herz, und es war nach den Dingen, die Merri zu mir gesagt hatte, gebrochen.

Erschöpft und mit brennenden Beinen hielt ich schließlich an. Gebeugt mit den Händen auf den Knien rang ich nach Luft. Ich erinnerte mich an dieses Gefühl. So hatte ich mich gefühlt, wenn die Einsamkeit zu viel für mich wurde.

Wenn es so schien, als würde die Welt um mich herum zusammenbrechen, lief ich. Laufen war das Einzige, was mir half, meine Pflicht zu erfüllen. Laufen beruhigte meinen Geist genug, um der Mensch zu sein, der ich sein musste.

Als ich dastand und meine rasenden Gedanken zur Ruhe kamen, schaute ich mich um. Ich wusste, wo ich war. Ich war an einem der Haltepunkte auf Titus’ Tour gelandet. Vor mir lag ein Teich, der mit dem Bach verbunden war, der an unserem Büro vorbeifloss. Weiter flussaufwärts verband er sich mit einem Fluss, der in den Bergen begann. Umgeben von üppigen grünen Bäumen, war es wunderschön und friedlich.

Da ich mit jemandem sprechen musste, zog ich mein Handy heraus und suchte nach Empfang. Ich hatte zwei Balken und rief den Einzigen an, von dem ich wusste, dass er antworten würde.

„Claude, was ist los?“, fragte Titus in seinem üblichen fröhlichen Tonfall.

Ich zögerte, bevor ich sprach. Warum hatte ich ihn angerufen? Musste ich seine Stimme hören? Musste ich nur wissen, dass ich nicht allein war?

„Claude?“

„Ja, Entschuldigung. Mir ist das Handy aus der Hand gerutscht.“

Titus lachte. „Und, was ist los?“

„Störe ich dich gerade?“

„Nein. Ich habe gerade die Vorlesung verlassen. Ich gehe zurück zu meinem Wohnheim. Ist Cali bei dir?“

„Nein. Ich habe, äh, ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich gestern die Schlüssel bekommen habe. Wir haben offiziell ein Büro.“

„Das ist fantastisch! Fühlt es sich schon wie zu Hause an?“, witzelte Titus.

„Es fühlt sich wie ein praktischer Raum an, von dem aus man arbeiten kann“, stellte ich klar und wählte meine Worte sorgfältig.

Titus lachte. „Das würdest du sagen. Gut, ich komme morgen, um dir zu helfen, die Ausrüstung reinzubringen. Mama wird sicherlich froh sein, sie aus dem Garten zu haben.“

„Bestimmt.“ Ich hielt inne und überlegte, was ich als Nächstes sagen würde. „Weißt du, heute Morgen ist was Lustiges passiert, als ich dort ankam.“

„Was denn? Ist schon etwas undicht hon?“

„Nichts dergleichen“, sagte ich, während ich mich umdrehte, um zurück ins Büro zu gehen. „Jemand war da.“

„Ja? Wer? War es ein Kunde?“

„Nein. Es war jemand, den ich von der Universität kannte. Er war Assistenzcoach im Footballteam.“

„Wirklich? Und woher kanntest du ihn?“

„Wie meinst du das?“

„Was meinst du, wie ich das meine? Woher kanntest du ihn?“

„Er war Assistenzcoach im Footballteam und ich habe im Team gespielt. Ich nehme an, ich kannte ihn auch außerhalb des Sports.“

Auf der anderen Seite des Telefons war es still.

„Warte mal. Jetzt nochmal von vorne. Du warst im Footballteam an der Uni?“

„Ja“, sagte ich, in dem Wissen, dass ich das Thema bisher vermieden hatte. „Hatte ich das noch nicht erwähnt?“

„Nein, das hast du nicht!“, erwiderte Titus fassungslos. „Willst du mir sagen, dass wir nun schon so lange zusammenarbeiten, ich dir von allem erzählt habe, was in meinem Team los ist und du hast nicht einmal erwähnt, dass du an der Uni gespielt hast?“

„Es kam nicht zur Sprache“, erklärte ich ihm.

„Es kam nicht zur Sprache? Findest du nicht, dass das eine dieser Sachen ist, die man erwähnt?“

„Es war wirklich keine große Sache. Ich hatte gehofft, diese Zeit hinter mir lassen zu können.“

„Schwere Spiele, was?“

„So in etwa. Wie auch immer, der Assistenztrainer ist im Büro aufgetaucht. Anscheinend hat er die Adresse von unserer Webseite.“

„Was wollte er?“

„Er wollte, dass ich wieder mit Football anfange.“

„Wie?“

„Ich weiß nicht genau“, log ich, weil ich nicht weiter darauf eingehen wollte.

„Also will er einfach nur, dass du wieder in den Sport einsteigst?“

„Scheint so.“

„Und wie hast du ihn nun gekannt?“

„Er war Assistenzcoach im Team. Und ich nehme an, man könnte sagen, dass wir Freunde waren.“

„Freunde? Warte mal, du hattest Freunde an der Uni?“, witzelte Titus.

„Ja, ich hatte Freunde.“

„Was für ein Freund war er? Typen tauchen nicht einfach aus dem Nichts auf, um dich ohne Grund zurückzugewinnen.“

„Ich versichere dir, wir waren nur Freunde“, sagte ich, um jegliche Missverständnisse auszuräumen. Sowohl Titus als auch Cali hatten Freunde, also fühlte ich immer die Notwendigkeit zu betonen, dass ich der heterosexuelle Bruder war.

„Klingt nicht so“, neckte Titus.

„Mehr waren wir nicht. Obwohl …“

Ich brach ab.

„Lass mich nicht hängen.“

„Er und ich waren beste Freunde. Und es gab ein paar Mal, wo ich den Eindruck bekam, dass er sich zu mir hingezogen fühlte.“

„Wirklich? Und was hast du für ihn empfunden?“

„Er war ein Freund. So habe ich über ihn gedacht.“

„Also, dieser lang verschollene Freund, mit dem du schon wie lange nicht mehr gesprochen hast?“

„Seit ich die Uni verlassen habe.“

„Dieser lang verschollene Freund, der vielleicht auf dich stand und mit dem du seit zwei Jahren nicht mehr geredet hast, taucht auf deiner Arbeitsstelle auf, um dich zurückzugewinnen.“

„So war es nicht.“

„Bist du sicher? Weil es so klingt.“

Ich dachte einen Moment darüber nach. Titus hatte nicht alle Informationen, aber lag er falsch? Es gab Zeiten, in denen Merri und ich zusammen abhingen und ich ihn dabei erwischte, wie er mich anstarrte. Das war mehr als einmal passiert.

Weil ich ihn und die Kreise, in denen er sich bewegte, kannte, hatte ich es als seine Schrulligkeit abgetan. Merri konnte gelegentlich definitiv schrullig sein. Aber wenn er auf mich stand, könnte seine Einladung zum Training für das Team etwas anderes sein? Gab es überhaupt ein richtiges Training?

„Ich weiß es nicht“, sagte ich Titus ehrlich.

„Nun, ich kenne ihn nicht. Aber ich kenne dich. Und ich weiß, dass du dir nicht des Effekts bewusst bist, den du auf andere Leute hast. Wenn da ein lang verschollener bester Freund aus dem Nichts auftaucht, um dich zurückzugewinnen, würde ich sagen, sei vorsichtig.

„Und willst du überhaupt wieder in den Football einsteigen? Es kann dir nicht so viel bedeutet haben, wenn du es jetzt das erste Mal erwähnst.“

„Es hatte seine Momente.“

„Sei vorsichtig. Du magst es vielleicht nicht denken, aber das klingt, als hätte es mehr damit zu tun, dass er dir an die Wäsche will, als dir irgendeine beliebige Footballposition anzubieten. Das klingt mehr als fragwürdig. Ich meine, gibt es überhaupt einen Job?“

„Vielleicht hast du recht.“

„Als ein Kerl, der den Großteil seines Lebens als nicht geoutet verbracht hat, sage ich dir, ich habe recht. Wenn du nicht auf der Suche nach deiner ersten schwulen Erfahrung bist, würde ich sagen, tu so, als wäre es nie passiert … Und ich sage das nicht nur, weil du mein Geschäftspartner bist und ich das Geschäft ohne dich nicht führen könnte.“

Ich lächelte. „Natürlich. Dein Rat ist überhaupt nicht voreingenommen.“

„Im Ernst, es klingt so, als gäbe es mehr zu der Geschichte, als du weißt.“

„Verstanden. Und du hast recht. Es scheint so, als gäbe es mehr zu der Geschichte. Vielleicht sollte ich es auf sich beruhen lassen. Danke, Titus.“

„Kein Problem, Bro. Dafür bin ich da.“

„Wir sehen uns am Wochenende.“

Nachdem ich das Gespräch beendet hatte, dachte ich über das nach, was Titus gesagt hatte. Er hatte recht mit einer Sache. Es gab mehr zu der Geschichte. Hatte Merri Hintergedanke? Ich hatte ihn immer als einen geradlinigen Kerl gekannt. Eines der Dinge, die ich am meisten an ihm mochte, war, dass ich das Gefühl hatte, ihm vertrauen zu können. Bis ich es nicht mehr konnte.

Also, sollte ich mich auf das einlassen, was Merri anbot? Und was bot er genau an? Als wir auf der Schule waren, dachte ich, dass Merri ein Freund wäre, den ich mein Leben lang haben würde. Er war der einzige Kerl, bei dem ich das Gefühl hatte, ich könnte ich selbst sein.

Wegen ihm war ich im Team so erfolgreich gewesen. In der Highschool hatte ich immer das Bedürfnis gehabt, nicht aufzufallen. Ich war der einzige schwarze Junge an der Schule und im Team. Das Beste, was ich tun konnte, war, mich anzupassen.

Aber in meinem ersten Jahr als Walk-on, war ich bei den Probespielen nervös wie Hölle. Ich warf den Ball herum, um die Nervosität im Zaum zu halten, da kam dieser kleinere, blonde Kerl mit stahlgrauen Augen auf mich zu und fragte, ob ich mich als Quarterback bewerbe. Nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich in der Highschool als Wide Receiver gespielt hatte, schlug er vor, dass ich die Position wechseln sollte.

Das kam für mich nicht in Frage. Der Quarterback war der Mittelpunkt des Teams. Nicht nur hatte ich diese Position nie zuvor gespielt, es würde viel mehr Aufmerksamkeit bringen, als ich suchte.

Während ich ihn im Auge behielt, wie er über das Feld lief, bemerkte ich später, wie er mit dem Trainer sprach. An einem Punkt sah ich, wie beide mich ansahen und als ich dran war, mich bei den anderen Trainings-Teilnehmern einzureihen, sagte der Trainer: „Du, wie heißt du?“

„Claude Harper, Sir.“

„Merrill sagt, du hast einen guten Wurf“, sagte er vor allen.

Ich schaute zu dem Kerl rüber, der ich dahin für den Wasserträger gehalten hatte.

„Ich bewerbe mich als Receiver. Ich habe einen ziemlich guten Sprint.“

Zu diesem Zeitpunkt war ich schon viel gelaufen. Meine Zeiten über 40 Yards waren es, die mich hoffentlich ins Team bringen würden.

„Nun probierst du dich als Quarterback. Hast du damit ein Problem?“

„Nein, Sir.“

„Gut. Wärm dich auf.“

Ich machte mich, wie mir geheißen, warm. Ich wusste nicht viel über das Team, da die Division-Zwei-Teams keine nationale Berichterstattung bekamen. Aber was ich wusste, war, dass sie auf der Quarterback-Position besetzt waren. Mark Thompson war im letzten Uni-Jahr und fest für diese Position vorgesehen.

„Ich mach dich warm“, sagte Merrill zu mir, als ich mich zu den Netzen aufmachte.

„Warum hast du ihm das gesagt? Ich habe dir doch gesagt, ich will nicht als Quarterback vorspielen. Willst du sicherstellen, dass ich nicht in die Mannschaft komme?“

Er sah mich überrascht an.

„Nein. Das ist es überhaupt nicht. Er ist mein Vater. Er sagte mir, ich solle jeden beobachten und ihm berichten, was ich sehe. Ich habe gesehen, dass du einen tollen Wurfarm hast.“

„Ja, aber das Team hat einen Quarterback. Ihr habt wahrscheinlich sogar einen Ersatz.“

„Wir haben Mark. Aber er verletzt sich oft. Und unser Ersatz trifft nicht mal die Seite einer Scheune. Wir haben schnelle Receiver und eine starke Offensivlinie. Wenn wir also unsere Quarterback-Position sichern könnten, hätten wir eine Chance auf den Divisionstitel.“

„Aber warum hast du deinem Vater gesagt, dass er mich in Betracht ziehen soll? Ich habe dir gesagt, dass ich kein Quarterback bin.“

„Nur weil du es bisher noch nicht gespielt hast, heißt das nicht, dass du es nicht kannst. Ich habe das Gefühl, du bist einer von den Typen, die mehr draufhaben, als sie zeigen. Da kenne ich mich aus.“

„Ja. Du bist der Sohn des Trainers und tust so, als wärst du der Wasserträger.“

„Ich bin der Wasserträger. Papa glaubt nicht an Vorteile durch Vetternwirtschaft. Ich muss wie alle anderen unten anfangen.“

„Alle anderen, die schon einen Job in der Tasche haben, sobald sie sich bewiesen haben?“

„Was meinst du damit?“ fragte er, ahnungslos wie ungleich seine Position im Vergleich zu allen anderen war.

„Nichts.“

„Wenn du willst, laufe ich und wirfst mir den Ball in Bewegung zu.“

„Klar“, sagte ich und schickte ihn weit weg.

Nach ein paar Würfen links und rechts an ihm vorbei kam er wieder zu mir.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich ein Receiver bin“, sagte ich, in der Hoffnung, dass er mich dorthin versetzen würde, wo ich hingehörte.

„Versuchst du es überhaupt?“

„Was meinst du damit, ob ich es versuche? Ich werfe doch, oder?“

„Du wirfst, als ob dich jemand zwingt, als Quarterback vorzuspielen.“

„Jemand zwingt mich als Quarterback vorzuspielen.“

„Okay, gut. Aber willst du mir sagen, dass das alles ist, was du draufhast?“

„Das ist, was ich habe.“

„Also, wenn das Leben deiner Freundin davon abhinge …“

„Ich habe keine Freundin.“

„Dann sagen wir deine Mutter. Wenn es darum ginge, das Leben deiner Mutter zu retten, würdest du dann so werfen? Hast du nicht mehr drauf?“

Ich schaute ihn an und wusste, worauf er hinauswollte. Ja, ich hielt mich zurück. Ich hielt mich immer zurück, denn man soll nie jemandem zeigen, wozu man wirklich fähig ist. Man will, dass die Leute einen unterschätzen. So hatte meine Mutter mich gelehrt zu überleben, als das einzige schwarze Kind in einer Kleinstadt in Tennessee.

Aber während ich diesen Mann ansah, der mich mit ungewöhnlichem Interesse bedachte, wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr in Tennessee war. Ich war an einer Universität in Oregon. Ein Schlüssel zum Überleben war, sich seiner Umgebung bewusst zu sein, und meine Umgebung hatte sich geändert. Was bedeutete das für mein Überleben?

„Vielleicht habe ich noch etwas darüber hinaus“, sagte ich und brachte ein Lächeln auf Merrills Gesicht.

„Dann lass es mich sehen“, sagte er und joggte das Feld hinunter.

Ich zentrierte mich, während er sich entfernte, grub tief und fokussierte mich. Sobald er sich drehte und lief, ließ ich alles los, was ich hatte, und traf ihn mitten in der Brust. Es fühlte sich gut an.

Er gab mir den Ball zurück, rannte 10 Yards weiter und lief wieder. Ich ließ ihn fliegen, traf ihn punktgenau. Egal, wie weit er weg lief, jedes Mal landete der Ball genau dort, wo ich ihn haben wollte. Mein Spiel überraschte sogar mich. Bis dahin war ich mir nie sicher gewesen, wozu ich fähig war. Ich hatte es Merrill zu verdanken, dass ich es entdeckt hatte.

„Du kannst mich Merri nennen“, sagte er zu mir, als wir zu seinem Vater zurückkehrten. „Er ist bereit, und er ist wirklich gut“, sagte Merri enthusiastisch.

„Oh ja? Dann zeig es mir“, sagte der Trainer und schickte mich aufs Feld.

 

An meinem Schreibtisch im Büro riss mich eine Benachrichtigung von meinem Telefon aus der Erinnerung.

Die Nachricht lautete: ‚Hey Claude, hier ist Merri. Das ist meine Nummer, falls du mich erreichen musst. Lass uns etwas essen gehen.‘

Ich starrte auf die Nachricht. Warum war Merri hier? Gab es tatsächlich ein Training? Oder steckte etwas anderes dahinter, wie Titus vermutet hatte?

‚Lass uns uns heute Abend treffen. Es gibt ein Diner in der Main Street. Ich werde um 7 dort sein’, schrieb ich zurück.

Es dauerte nicht lange, bis seine Antwort eintraf.

‚Ausgezeichnet! Ich kann es kaum erwarten. Danke.‘

Mein Herz krampfte sich beim Lesen zusammen. Was war es an Merri, das mich dazu brachte, Dinge zu tun, die ich nicht tun wollte? Ich wollte nicht im Rampenlicht stehen, weil ich als Quarterback spielte. Aber er hat mich überzeugt, und wir gewannen drei Titel in Folge.

Ich hatte mich vom Football verabschiedet. Und doch war ich hier … Verdammt, ich wusste nicht, was ich tat.

Alles, was ich wusste, war, dass ich glücklich gewesen war, Merri aus meinem Leben zu haben. Nun, vielleicht nicht gleich glücklich, aber ich war dabei, meinen Weg zu finden. Und jetzt freute ich mich darauf, ihn wiederzusehen.

Ich wollte mich nicht darauf freuen, ihn zu sehen. Er hatte schreckliche Dinge zu mir gesagt. War ich so verzweifelt nach Kontakt, dass ich bereit war zu übergehen, was er getan hatte? Was er gesagt hatte?

Das war überhaupt nicht ich. Ich hatte das Gefühl, mich selbst langsam zu verlieren. Offensichtlich hatte Merri immer noch eine gewisse Macht über mich. Und wenn er mich überzeugen konnte, zu ignorieren, was beim letzten Treffen passiert ist, was könnte er mich noch zu tun überzeugen?

 

 

Kapitel 5

Merri

 

Ich saß in meinem Zimmer, immer noch aufgewühlt davon, Claude wiedergesehen zu haben. Ich hatte vergessen, wie gut er aussah. Ich meine, es war schwer, ihn zu vergessen, aber irgendwie brachte er mein Herz immer noch zum Hämmern. Als ich auf meine Hände blickte, zitterten sie.

Niemand anderes hatte jemals diese Wirkung auf mich gehabt. Deshalb war ich damals an der Uni vor meinen Gefühlen für ihn davongelaufen. Mit jedem Tag, der verging, verlor ich den Halt an dem Bild von mir, das ich ein Leben lang aufrechterhalten hatte.

Ich war der Sohn eines Footballtrainers. Alles, was ich jemals wollte, war in seine Fußstapfen zu treten. Wenn ich schwul wäre, könnte ich das niemals tun. Also dachte ich, wenn ich meine Gefühle für Claude unterdrücken könnte, würden meine Träume wahr werden.

Wie hatte ich nur so ein Durcheinander anrichten können? Ich konnte meine Gedanken nicht von Claudes Nachricht ablenken, und als mein Telefon klingelte, ging ich sofort ran.

„Hallo?“, sagte ich, in der Hoffnung, seine Stimme zu hören.

„Also hast du dich entschieden abzunehmen?“, antwortete der Anrufer.

„Jason?“, fragte ich.

Ich blickte auf die Anrufer-ID. Dort stand ‚Unbekannt‘.

„Wartest du etwa auf jemand anderen?“

„Nein, ich … ich wartete auf einen geschäftlichen Anruf.“

„Das glaube ich dir gern“, sagte er mit einer Giftigkeit, die mich am Ende des letzten Spiels der Saison zu Tränen gerührt hatte.

„Ich betrüge dich nicht, falls du das denkst.“

„Habe ich nicht. Aber es ist gut zu wissen, wo deine Gedanken sind.“

„Was gibt’s, Jason?“, sagte ich, weil ich dieses Gespräch nicht führen wollte.

„So willst du also mit mir reden? Du verlässt die Stadt, ohne es mir zu sagen, und dann sagst du das?“

„Was soll ich denn sagen?“

„Wie wäre es damit, dass es dir leidtut? Oder dass du aufhörst, so ein Arsch zu mir zu sein.“

„Ich habe wirklich keine Zeit für diese …“

„Und das ist das Problem, du hast niemals Zeit für mich. Während der Saison hattest du die Ausrede, dass du dich auf die Spiele vorbereitest …“

„Ich muss mich auf die Spiele vorbereiten!“, bestand ich.

„Und wenn die Saison zu Ende ist, haust du ohne ein Wort ab, als ob ich dir nicht mal ein bisschen wichtig wäre?“

„Natürlich bist du mir wichtig.“

„Dann zeig es doch! Warum zeigst du es nie?“

Ich kannte die Antwort auf diese Frage. Es lag daran, dass es immer einen Teil von mir gab, der glaubte, ich würde mit Claude zusammenkommen. Ich wusste, dass es gegenüber Jason nicht fair war, aber ich war immer mit einem Fuß schon wieder draußen. Ich war nie ganz da.

„Nichts, hm? Typisch“, sagte er nach meiner langen Stille.

„Was soll das heißen?“

„Das heißt, dass ich das hier nicht mehr will.“

„Was?“

„Das hier! All das hier?“

„Was willst du damit sagen?“

„Ich will Schluss machen.“

„Ok. Wie du meinst“, sagte ich ihm, nicht mehr länger kämpfen wollend.

„Das ist also alles, ja?“

„Du bist derjenige, der Schluss machen wollte.“

Ich konnte nicht sicher sein, aber ich dachte, ich hörte Jason anfangen zu weinen.

„Schön. Tschüss, Merri.“

„Tschüss, Jason“, sagte ich und beendete den Anruf.

Tränen rollten über meine Wangen, bevor ich etwas dagegen tun konnte. Der Grund, warum ich nicht mit Jason gesprochen hatte, bevor ich wegging, war, weil ich genau das vermeiden wollte. Der Grund, warum meine tränenverschmierten Wangen landesweit im Fernsehen übertragen wurden, war, weil die Saison vorbei war und ich wusste, dass wir letztendlich hier enden würden.

Jason war meine erste schwule Beziehung gewesen. Ich hatte angefangen, ihn zu daten, als ich dachte, dass es reichen würde, niedlich und schwul zu sein, um eine Partnerschaft aufrechtzuerhalten. Nach einem Jahr zusammen wurde mir klar, dass es nicht reichte.

Wir waren unterschiedliche Menschen. Wären wir Stereotypen, wäre er der freche, partyfreudige Schwule und ich der Schwule, der immer noch ganz hinten im Schrank saß. Es war nicht so, dass ich mich für ihn schämte oder so. Er war erfolgreich und heiß. Ich war einfach nicht darauf aus, dass unsere Familien gemeinsam Weihnachten feiern.

Die Wahrheit war, dass er mehr verdiente als mich. Jeder tat es. Ich war ein mieser Freund. Ich arbeitete die ganze Zeit. Ich mochte keine öffentlichen Zuneigungsbekundungen. Und ich hing an meinem heterosexuellen besten Freund, mit dem ich seit zwei Jahren nicht gesprochen hatte. Warum sollte jemand mit mir zusammen sein wollen?

Ich schniefte und wischte die Tränen von meinem Gesicht. Ich hatte diese Situation geschaffen und musste jetzt damit klarkommen. Ich hatte alles Schlechte, das mir in letzter Zeit passiert war, selbst herbeigeführt und ich musste mir meinen Weg daraus herausbahnen.

Obwohl es entmutigend schien, gab es keinen besseren Anfangspunkt als dort, wo alles begann, bei Claude. Ich kannte ihn; er hatte sich vom Team und von mir abgewendet und nie zurückgeblickt.

Ich sollte wohl einfach dankbar sein, dass er sich überhaupt noch an meinen Namen erinnerte. Claude hatte die Angewohnheit, alles, was ihm nicht gefiel, auszublenden. Und in den letzten zwei Jahren war ich mir sicher, dass er mich nicht mochte.

Als mein Telefon summte, blickte ich darauf und erwartete, dass es wieder Jason war. War es aber nicht. Es war eine Nachricht von Papa.

‚Hast du Fortschritte bei Claude gemacht?‘

Ich war ehrlich zu Claude gewesen, als ich ihm sagte, dass Papa und ich ihn beide zurückwollten. Sicher, wir hatten jeweils unsere eigenen Gründe, aber der Wunsch war echt.

Wenn ich meinen Weg aus dem Schlamassel mit Claude finden wollte, musste ich mit einigen Wahrheiten anfangen. Denn neben seiner Schönheit und seiner Sportlichkeit war er auch einer der klügsten Typen, die ich kannte.

Er musste wissen, dass ich nicht ohne weiteres aus heiterem Himmel aufgetaucht wäre, nur um ihm ein Probetraining anzubieten. Und wenn ich schon vom Schrank-Schwulen zu einem gut angepassten Schwulen werden wollte, hatte ich viel Arbeit vor mir. Diese Arbeit würde mit Claude beginnen.

Mist – warum war mein Leben immer so ein Drama? Ich schätze, ich war wirklich ein Stereotyp. Aber das endete heute Nacht.

 

 

Kapitel 6

Claude

 

Da ich früh im Diner angekommen war und saß ich in einer Nische, die zur Glasfront und zur Tür hin ausgerichtet war. Ich hatte gesehen, in welchem Auto er weggefahren war, also wusste ich, wonach ich Ausschau halten musste. Als es kam, spürte ich eine Enge in meiner Brust und einen Kloß im Hals.

Ich wusste nicht, warum ich mich so fühlte, aber es war einfach so. Ich würde gerne sagen, dass es wegen der unvermeidlichen Auseinandersetzung war, die wir haben würden. Doch das Gefühl kannte ich. Es hätte sich wie Stress angefühlt. Ich fühlte jedoch etwas anderes. Etwas, das ich schon eine Weile nicht mehr gespürt hatte.

Als er in meine Richtung blickte und mich sah, winkte ich ihm zu. Er lächelte und kam herüber. Er sah viel zu glücklich aus, hier zu sein. Vielleicht hatte Titus recht. Vielleicht entwickelte sich dieses Gespräch in eine Richtung, die ich nicht vorhersehen konnte. Was fühlte ich dabei?

„Du bist da“, sagte er, während er auf der anderen Seite des Tisches auf mich hinunterschaute.

„Ich habe gesagt, dass ich es sein werde.“

„Das hast du. Und du tust immer das, was du sagst.“

„Ich versuche es.“

Mit einem Grinsen im Gesicht starrte Merri mich etwas unbeholfen an.

„Setzt du dich?“

„Ja, natürlich“, sagte er, setzte sich neben mich und verhielt sich wieder unbeholfen. „Hey, erinnerst du dich an die Pizzeria, zu der wir immer gegangen sind?“

„Palermo’s?“

„Genau, Palermo’s. Wir konnten nicht genug davon bekommen.“

„Ich erinnere mich. Wenn du das Stück gefaltet hast, hat sich Fett auf dem Käse gesammelt.“

„Und das war nicht wenig. Man hätte eine weitere Pizza damit frittieren können“, sagte er lachend.

„Ja“, sagte ich und widerstand seiner Reise in die Vergangenheit. „Also, hast du das hier deshalb vorgeschlagen, um über Pizza zu reden?“

„Nein. Nein, das ist definitiv nicht der Grund, warum ich dich hierher gebeten habe.“

„Was darf’s für euch beide sein?“, fragte uns der Koch mit dem großen Bauch.

„Für mich einen Burger, Mike.“

„Und für dich?“

Merri griff nach der Speisekarte in der Mitte des Tisches und überflog sie rasch.

„Weißt du was? Ich nehme einfach das Gleiche wie er.“

„Zwei Burger medium, kommt sofort“, sagte Mike, ohne es aufzuschreiben.

„Du kennst ihn?“, fragte Merri mich.

„Es ist ein kleiner Ort. Jeder kennt jeden.“

„Wie ist das so? In meiner Heimatstadt waren etwas über 10.000 Leute. Das ist nicht viel im Vergleich zu fast überall, aber man kann sein Leben darin verbfingen, ohne jemals alle Bewohner getroffen zu haben.“

„Ja, hier ist es etwas anders. Meine Highschool hatte 100 Schüler und es war die einzige im Umkreis von 40 Meilen.“

„Also hast du alle in deinem Alter am ersten Kindergartentag getroffen?“

„So ziemlich.“

„Das ist verrückt. Also weiß jeder über deine Angelegenheiten Bescheid?“

„Es gibt nicht viel, was sie nicht wissen.“

Merri machte eine Pause.

„Wie funktioniert das mit dem Dating?“

„Was meinst du?“

„Müsst ihr sozusagen reihum ausgehen, weil es die gleichen Leute sind?“

Wider besseren Wissens lachte ich.

„Nein, es gibt hier keine Dating-Pflicht.“

„Aber es kann nicht viele Möglichkeiten geben.“

„Ja, die Optionen sind begrenzt.“

„Und wie gehst du damit um?“

„Nun, wenn du ich bist, entscheidest du dich dagegen, bis zum College auszugehen.“

„Ich erinnere mich nicht daran, dass du auf dem College viele Leute gedatet hast.“

„Wolltest du darüber mit mir sprechen, die Dating-Rituale von Kleinstadt-Amerika?“

Merri sah verlegen aus.

„Nein, darüber wollte ich auch nicht sprechen.“

„Was denn dann?“

„Erinnerst du dich an das Mädchen, mit dem ich im ersten Jahr zusammen war?“

Ich stöhnte.

„Ich verspreche dir, das führt irgendwohin.“

„Ja, ich erinnere mich an sie. Sheryl oder so, nicht wahr?“