MEIN MÜRRISCHER FOOTBALLER-BOSS

Kapitel 1

Hil

 

„Ich glaube, ich habe gerade jemanden umgebracht“, sagte ich, während mir das Blut aus dem Gesicht wich.

„Hil, bist du das?“ Dillons Sorge um mein Wohlergehen war etwas, wofür ich sie lieben gelernt hatte.

„Ich bin’s. Was habe ich nur getan?“

„Wo bist du überhaupt gewesen? Ich bin vor lauter Sorge fast krank geworden! Wo steckst du?”

„Ich bin in einem Krankenhaus“, erwiderte ich und blickte zu den anderen besorgten Leuten im Wartezimmer.

„Nein, ich meine, in welcher Stadt bist du? Geht es dir gut?“

„Mir geht es gut. Ich habe jemandem mein Auto geliehen und er hatte einen Unfall. Auf meinem Telefon ging eine Warnnachricht ein, dass es hinten angefahren wurde und ein Krankenwagen gerufen worden war. Dillon, ich glaube, jemand hat versucht, mich von einer Klippe zu drängen.“

„Hil, du musst mir sagen, wo du bist.“

„Ich weiß nicht, wo ich bin. Es ist eine Kleinstadt in Tennessee. Aber es geht mir gut. Ich musste einfach deine Stimme hören. Du darfst niemandem erzählen, dass ich dich angerufen habe.“

„Remy hat nach dir gefragt. Er meinte, dein Vater ist besorgt.“

„Du darfst ihm auf keinen Fall etwas sagen. Versprich mir das.“

„Hil …“

„Versprich es mir!“

„Gut. Versprochen. Aber du darfst nicht noch einmal einfach so verschwinden.“

„Das werde ich nicht. Aber das hier muss ich erledigen. Ich muss ihnen beweisen, dass ich es allein schaffe.“

„Hast du nicht gerade gesagt, dass jemand versucht hat, dich von einer Klippe zu drängen?“

„Schon gut, Dillon. Ich schaffe das.“

„Mir wurde gesagt, dass meine Mutter eingeliefert worden ist“, sagte jemand mit dem heißesten Südstaatenakzent überhaupt und riss mich aus meiner Unterhaltung mit Dillon heraus.

Ich sah auf und erblickte einen Typen am Empfangsschalter zwanzig Fuß von mir entfernt. Er hatte pechschwarzes Haar, breite Schultern und einen athletischen Körperbau. Ich konnte ihn nur von hinten sehen und doch zog es mich zu ihm hin. Und als der Kerl, der mich ins Krankenhaus gefahren hatte, zu ihm eilte, stand ich auf, um mich zu ihnen zu gesellen.

„Ich muss los.“

„Verschwinde nicht einfach wieder so. Du musst mir sagen, wo du bist.“

„Ich rufe dich bald an. Versprochen, Dillon.“

Ich beendete das Gespräch und ging zu den beiden Männern an den Empfangstisch. Marcus, der mich gefahren hatte, drehte sich zu mir um, als ich zu ihnen trat. „Hil, das ist Cali. Dr. Sonya ist seine Mutter.“

Der größere Typ sah mich an. Meine Knie wurden weich. Etwas an seinem Geruch und die Art, wie seine Augen in meine blickten, machten mich schwach.

„Warum hat meine Mutter dein Auto gefahren?“, zischte der hinreißende Mann.

Ich trat zurück, das erwischte mich eiskalt. Natürlich konnte ich verstehen, dass er aufgebracht war. Das wäre ich in seiner Situation vielleicht auch. Aber konnte er denn nicht erkennen, dass ich ebenfalls besorgt war?

„Sie hatte mein Auto bewundert, als ich in ihre Pension gekommen war. Sie hat es einige Male erwähnt, also fragte ich sie, ob sie mal eine Proberunde drehen will, weil ich heute eigentlich abreisen wollte. Hätte ich das nicht tun sollen? Ist sie keine gute Fahrerin?“

Cali musterte mich eindringlich und ließ dann ab.

„Nein, schon okay. Sie fährt so gut wie jeder andere auch. Du konntest ja nicht wissen, was passieren würde. Entschuldige, wie war dein Name gleich noch mal?“

„Hilaire, aber alle nennen mich nur Hil“, erwiderte ich und reichte ihm meine Hand.

Er ergriff meine moppelige Hand und hielt sie länger, als ich erwartet hatte. Die Art, wie er mich ansah, gab mir ein Gefühl der Verletzlichkeit. Es war, als könnte er in mich hineinsehen. Ich hatte keine Geheimnisse, wenn er mich so ansah.

„Schön, dich kennenzulernen, Hil. Ich schätze, ich sollte mich wohl dafür entschuldigen, was mit deinem Auto passiert ist.“

„Sei nicht albern. Dafür gibt es doch Versicherungen. Ich hoffe inständig, dass es deiner Mutter gutgeht.“

Cali ließ meine Hand los und wandte sich ab, unterbrach damit unsere Verbindung. Diesen Verlust zu spüren tat weh.  Der Nachteil, wenn man so wie ich aufwuchs, war, dass man nicht die Gelegenheit bekam, Männer wie Cali kennenzulernen. Mein Vater war so beschützerisch, dass ich nicht zur Schule ging. Ich hatte ausschließlich Privatlehrer. Ich hatte nie ein Leben.

Als meinem Vater bewusst wurde, dass ich anfing Jungs zu mögen, machte er keine große Sache daraus. Vielmehr wurden Jungs eine weitere Sache, vor der er mich beschützen musste. Ich fühlte mich wie seine kleine Prinzessin. Aber nicht auf die Art, dass ich dachte, ich könnte einen Prinzen bekommen. Es war auf die Art, die mir sagte, dass man mir nichts anvertrauen konnte. Das war ein Grund, warum ich auf dieser Reise war, um zu beweisen, dass ich auf mich allein gestellt überleben konnte.

Und wenn ich schonungslos ehrlich wäre, war ein anderer Grund, dass Typen, die wie Cali aussahen und mir solche Gefühle bescherten, nur sehr selten meinen Weg gekreuzt haben. Mit zwanzig Jahren war ich immer noch Jungfrau. Und das würde sich niemals ändern, wenn ich weiterhin unter dem Schutz meines Vaters lebte. Ich musste von dort weg. Doch nun war ich in einem Krankenhaus mitten im Nirgendwo in Tennessee, wusste nicht, was ich tun sollte, wohin ich gehen sollte oder wie ich überhaupt dahin kommen würde.

„Danke für dein Kommen, Marcus. Aber du musst nicht bleiben. Ich bin mir sicher, dass du viel zu tun hast. Ich will dich von nichts abhalten“, meinte Cali, ohne ihn dabei anzusehen.

„Nein, ich kann hierbleiben, solange du mich brauchst. Sie ist deine Mutter, aber ich mache mir auch Sorgen um sie.“

„Danke. Aber Claude und Titus werden bald hier sein. Du brauchst nicht bleiben“, sagte der gut gebaute Mann geringschätzig.

„Nein, ernsthaft. Ich kann bleiben, solange du mich brauchst.“

Cali drehte sich zu ihm um und schaute ihn mit einem Gesicht wie aus Marmor gemeißelt an.

„Geh, Marcus. Ich werde dich darüber in Kenntnis setzen, wie es ihr geht. Ich bin mir sicher, dass Hil ebenfalls zurück will.“

Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen in demselben geringschätzigen Tonfall hörte. Wollte er uns nicht hierhaben? War er böse auf mich? Wenn ich nicht gewesen wäre, befände sich seine Mutter nicht in diesem Zustand.

Ich legte meine Hand auf Marcus’ Schulter.

„Wir sollten gehen. Cali wird uns sicherlich Bescheid geben, wenn er mehr weiß.“

Cali drehte sich mit einem erleichterten Gesichtsausdruck zu mir. Ich wusste nicht warum. Lief da irgendwas zwischen den beiden? Hatten sie eine gemeinsame Vergangenheit?

Ich sah erneut Marcus an, um ihn eingehender zu betrachten. Er war nicht auf dieselbe Weise mein Typ wie Cali, aber er war nichtsdestotrotz attraktiv. Er war nicht ansatzweise so gut gebaut wie der Adonis neben ihm, aber er war sportlich und hatte die gleichen Grübchen wie Cali.

„Ich kann dich zurück zu Dr. Sonyas Pension bringen“, entgegnete Marcus, aber war zu traurig, um meinen Blick zu erwidern.

„Danke“, sagte ich, als würde ich nicht genauso gern dableiben wollen wie er.

„Noch mal, es tut mir wirklich leid, was mit deiner Mutter passiert ist“, erklärte ich und zog zwar Calis Aufmerksamkeit auf mich, nicht aber seinen Blick.

Er nahm mich kaum zur Kenntnis. Wie ich ihn so ansah, wollte ich meine Arme sehnlichst um ihn schlingen und ihm sagen, dass seine Mutter in Ordnung kommen würde. Aber ihn umgab ein stacheliger Panzer, den ich nicht durchdringen konnte.

Verhielt er sich so, weil er bemerkt hatte, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte? Ich wusste nicht viel über Jungs, dass aber einer, der so heiß wie er war, niemals auf ein kurviges Mädchen wie mich stehen würde, wusste ich sehr wohl. Vielleicht verhielt er sich so abweisend, weil er mir keinen falschen Eindruck vermitteln wollte. Oder vielleicht fand er mich auch einfach nur abstoßend und wollte weg. So oder so, ich musste gehen..

Marcus und ich gingen, wie Cali es gewünscht hatte, und wir fuhren schweigend zu der Pension zurück. Den gesamten Weg über sah er von unserer Begegnung mit Cali genauso verwirrt aus wie ich. Als ich es noch einmal rekapitulierte, fragte ich mich, ob er mich wirklich hatte abblitzen lassen. Ich tendierte dazu, wegen meines Gewichts unsicher zu sein. Cali schien kein schlechter Kerl zu sein. War es möglich, dass er einfach nicht so kommunikativ war? War er sonst auch so schweigsam?

Oder hatten er und Marcus eine gemeinsame Vergangenheit? Gab es einen Grund, warum die Atmosphäre zwischen den beiden so angespannt erschien? Was war da los?

„Ich muss mich für Calis Verhalten entschuldigen. Normalerweise ist er nicht so …“, Marcus hielt inne.

„Eifrig dabei, Leute loszuwerden?“

Marcus lachte. „Doch, dieser Teil ist typisch Cali. Er ist sonst einfach nur etwas netter dabei. Du solltest es nicht persönlich nehmen.“

„Und du?“

„Und ich was?“

„Nimmst du es persönlich?“

Marcus’ Mund öffnete sich, aber er sprach nicht. Er brauchte eine Weile, bis er sagte:

„Manchmal. Er und ich sind auf dieselbe Highschool gegangen. Cali war in der Footballmannschaft und die Mädchen haben sich ihm an den Hals geworfen. Wir hatten nicht wirklich denselben Freundeskreis.

„Doch unsere Mütter sind befreundet, also waren wir oft gezwungen, Zeit miteinander zu verbringen. Ich fühlte mich immer, als würde ich ihn belästigen. Ich schätze mal, dass sich nicht viel geändert hat.“

„Also hatte Cali viele Freundinnen?“, hakte ich nach und konnte meine Absichten nicht verstecken.

Marcus sah mich an und gehörte nun auch zu der endlos langen Reihe an Menschen, die mich durchschauten. Er lachte kurz.

„Lustigerweise gab es zwar einen endlosen Ansturm an Mädchen, aber trotzdem habe ich ihn nie wirklich mit einer von ihnen gesehen. Er ist eher der grübelnde Einzelgänger.“

„Er erwähnte zwei Typen, die bald bei ihm sein würden.  Ich nehme an, dass keiner von ihnen sein fester Freund ist?“, fragte ich zögerlich.

Marcus lachte erneut.

„Nein, Claude und Titus sind seine lange verschollenen Brüder.“

„Lange verschollene Brüder?“

„Ja. Letzten Herbst hat Titus‘ Freundin einen DNA-Test herumgereicht und es stellte sich heraus, dass die drei denselben Vater haben.“

„Oh, wow!“

„Genau das dachte der Rest der Stadt auch.“ Es war ein richtiger Skandal. Calis Mutter war eine der Personen, über die sich alle das Maul zerrissen haben. ‘Haben alle drei wirklich denselben Vater? Wie kommt es, dass sie vom Alter so nah beieinander sind? Wer war dieser Mann?’

„Keine der Mütter sagte etwas. Wie es aussieht, haben sie es nicht einmal ihren Söhnen gesagt. Cali und Dr. Sonya hatten bis dahin ein sehr enges Verhältnis gehabt.  Jetzt verbringt Cali die meiste Zeit am College.“

„Cali geht aufs College?“

„Ja. Er ist in der Footballmannschaft. Sowohl er als auch Titus. Letzte Saison hat Titus einen neuen Rekord für gelaufene Yards auf seiner Position aufgestellt und Cali für gekickte Yards.

„Das ist eine sportliche Familie.“

„Sieht so aus“, entgegnete Marcus mit einem schmerzhaften Blick.

„Ich nehme an, dass du nicht auf die Uni gehst?“, fragte ich in der Annahme, dass er in etwa mein Alter war.

„Ich bin nicht mit der natürlichen Gabe gesegnet, die so viele Leute in dieser Stadt haben.  Wenn es im Wasser war, dann habe ich definitiv nicht davon getrunken“, meinte er lächelnd.

„Nein, aber ich habe von deinem Gebäck gekostet. Es ist kein Muss, Football zu spielen, wenn du Sachen machen kannst, die so schmecken. Ich kenne Leute, die für eines deiner Schokocroissants töten würden“, sagte ich ehrlich.

Marcus errötete. Das reichte aus, um in mir den Verdacht zu wecken, dass er an mir interessiert war. Doch es brauchte nur einen Augenblick, in dem ich ihn mir nackt vorstellte, um zu verstehen, dass ich ihn mehr als einen Bruder betrachtete und weniger als eine Person, mit der ich ins Bett gehen wollte.  Bei Cali auf der anderen Seite reichte schon ein Gedanke aus, um mir das Gefühl zu bescheren, dass jemand mein Herz zusammenquetschte. War das die Umschreibung dessen, wenn einem das Herz vor Sehnsucht schmerzte?

„Ich weiß es zu schätzen, dass du das gesagt hast“, meinte Marcus und riss mich aus meinen zunehmend ausartenden Fantasien mit Cali. „Gebäck herzustellen ist meine Art zu entspannen.“

„Ich würde einen Arm und ein Bein hergeben, um in irgendetwas so gut zu sein wie du beim Backen. Ich könnte dir nicht mal sagen, wie man ein Ei kocht.“

Marcus lachte. Er musste gedacht haben, dass ich einen Witz mache. Machte ich aber nicht. Wir hatten schon immer Hausangestellte und Köche gehabt. Für kurze Zeit hatten wir sogar einen Vorkoster. Es ist schwierig zu lernen, auf sich allein gestellt zu überleben, wenn es eine endlose Reihe an Leuten gibt, die dafür bezahlt werden, alles für dich zu erledigen.

Er wechselte für Rest unserer fünfundvierzig minütigen Reise das Thema und erzählte mir davon, wie es war, in einer Kleinstadt aufzuwachsen. Es war sehr anders als meine Erfahrungen in New York. Ich fragte ihn, ob er und seine Freunde jemals Glühwürmchen in Einmachgläsern gefangen hatten. Er lachte und bejahte.

„Als Nächstes wirst du mir gleich erzählen, wie du und deine Freunde im Bach gefischt habt.“

Er sah mich verlegen an.

„Im Ernst jetzt?“

„Du verstehst nicht, wie wenige Dinge es hier gibt, die man tun kann. Aber hast du es schon mal probiert? Es macht genau genommen richtig Spaß.“

„Gut möglich. Auf jeden Fall wird es besser sein, als verlegen mit Kindern zu spielen, mit denen deine Eltern eine Spielverabredung angesetzt haben.“

„Deine Eltern haben Spielverabredungen für dich organisiert?“, fragte er mich verwirrt.

„Ja. Machen das Leute in Kleinstädten nicht?“, entgegnete ich und kämpfte die Verlegenheit und Scham nieder, die ich dafür empfand, dass meine Eltern Freunde für mich suchen mussten und dabei doch scheiterten.

„Nein, noch nie davon gehört.“

„Einer der Höhepunkte also, wenn man Zuhause unterrichtet wird, nehme ich an“, zuckte ich mit den Schultern und wartete verzweifelt auf einen Themenwechsel.

 

Zum Glück sah Marcus weg, ohne darauf zu reagieren und wir schwiegen wieder. Meine Unfähigkeit Freunde zu finden war ein weiterer wunder Punkt. Wenn Dillon nicht wäre, wäre ich ein fettes Mädchen, dass jeden Tag mit Cheetos-Krümeln bedeckt in ihrem Zimmer eingeschlossen wäre. Ja, diese Reise hatte ich wirklich gebraucht..

Als wir wieder bei der Pension waren, fragte Markus mich, ob ich noch etwas brauchte, da ich jetzt ja kein Auto mehr hatte. Ich sagte ihm, das ich schon klar käme. Er gab mir seine Nummer und meinte, dass ich ihn anrufen solle, wenn ich etwas bräuchte. Ich war dankbar.

Ich versuchte unabhängig und selbstständig zu sein, aber die Wahrheit war, dass ich nicht wusste, was ich tat. Was würde ich denn jetzt tun, so ganz ohne Auto? Und noch viel wichtiger, was würde ich so ganz ohne Geld machen?

Wenn du die Art von Ausflug machst wie ich, kannst du dich nicht auf die Kreditkarte deines Vaters verlassen. Kreditkartenkäufe können nachverfolgt werden. Wenn ich sie verwendete, würde mein Vater genau wissen, wo ich war.

Alternativ dazu könntest du natürlich auch das Familienauto nehmen, das keinen Überwachungssender hat, ein paar Stapel Bargeld einpacken, die dein Vater im Haus versteckt hat, dein Telefon ausschalten und dahin gehen, wo auch immer du willst.

Das war die Variante, für die ich mich entschieden hatte. Allerdings hatte ich das Bargeld im Auto behalten, weil ich dachte, dass es dort am sichersten sei. Hätte ich darüber nachdenken sollen, bevor ich Dr. Sonya erlaubte, es für eine Spritztour auszuleihen? Offensichtlich ja. Aber wie hätte ich ahnen können, dass mein Auto und mein ganzes Geld in der Schlucht eines Gebirgspasses enden würden?

Was sollte ich jetzt nur tun? Ich hatte kein Auto, ich hatte kein Geld und wenn ich mich nicht täuschte, dann hatte Dr. Sonja schon jemand anderen, der heute Abend in mein Zimmer einchecken würde.

Es war nicht so, dass ich überhaupt keine Möglichkeiten hatte. Wenn es hart auf hart kam, könnte ich immer noch meine Kreditkarte verwenden oder zuhause anrufen. Aber das wollte ich nicht tun. Nur einmal in meinem Leben wollte ich meinem Vater zeigen, dass ich nicht vollkommen hilflos war. Ich konnte mich um mich selbst kümmern. Doch je länger mein kleines Abenteuer dauerte, desto mehr fing ich an zu denken, dass es doch nicht konnte.

Ich betrat die Pension und vier Köpfe drehten sich sofort zu mir. Sie sahen wie zwei Pärchen aus, die sich für einen Abenteuerurlaub gekleidet hatten.  Sie trugen Wanderstiefel und große Rucksäcke lagen auf dem Boden neben dem Sofa, ich nahm also an, dass dies die von Dr. Sonja erwähnten Besucher waren, die nach mir kommen würden. Ich wusste nicht, was ich ihnen sagen sollte, also sagte ich nichts und lief stattdessen an ihnen vorbei in mein Zimmer.

Hinter meiner geschlossenen Tür fiel ich auf das Bett und starrte an die Decke. Ich fühlte mich so verloren. Ich musste etwas tun, nicht wahr? Ich konnte nicht einfach so daliegen und hoffen, dass sich alles von selbst richtete. Nahmen selbstständige Leute die Dinge nicht selbst in die Hand? Dachten sie nicht darüber nach, was als Nächstes passieren würde und bereiteten sich darauf vor?

Wie gelähmt lag ich mehr als eine Stunde lang da und dachte darüber nach, was ich tun sollte. Ich wusste, dass Dillon mir helfen würde, wenn sie könnte, aber unsere Beziehung war nicht dergestalt. Ich war diejenige gewesen, die ihn adoptiert hatte. Dillon war die Tochter meiner Lieblingshaushälterin. Nachdem meine Eltern ein Spieltreffen arrangiert hatten, entschied ich, dass sie das Leben bekommen würde, das ich mir wünschte.

Als sie die Highschool abschloss, überzeugte ich meinen Vater ein Stipendienprogramm zu gründen und stellte sicher, dass sie es bekam. Ich stellte auch sicher, dass ihr Zimmer im Collegewohnheim mit allem ausgestattet war, was sie brauchen würde. Das Stipendium enthielt ebenso Taschengeld, sie brauchte sich also keinen Job suchen, und sie bekam ebenso Zuschüsse für Kleidung, so konnte sie sich einen tollen Kerl suchen und ein glückliches Leben leben.

Ich tat das nicht, weil ich irgendetwas von ihr wollte. Sie ist meine Freundin. Ich wollte einfach, dass sie glücklich war. Ich war mir sicher, dass sie mir jetzt helfen würde, wenn sie könnte. Doch sie war in New Jersey und ich kannte den exakten Betrag auf ihrem Konto. Dillon zu fragen war keine Option.

Ich hörte ein Klopfen an der Tür, es riss mich aus meinem Gedankenkarussell. Ich riss mich schnell zusammen und setzte mich auf. Seitdem ich mich hingelegt hatte, war es dunkel geworden. Ich kam auf die Füße und schaltete ein Licht an.

„Ja?“, sagte ich und befand mich plötzlich von Angesicht zu Angesicht mit Calis kantigen Wangenknochen.

„Ich habe mich nur gefragt, ob du bald auscheckst?“, erkundigte er sich mit einer unverkennbaren Last auf den Schultern.

Ich wollte ihn nicht mit meinen unbedeutenden Problemen belasten. Er hatte dank mir genug um die Ohren.

„Ja. Natürlich. Ich schätze, ich habe die Zeit vergessen.“

„Es ist nur, dass jemand für dieses Zimmer eingetragen ist und ich es noch nicht saubergemacht habe …“

„Ich verstehe.“

„Wenn du mehr Zeit brauchst …“

„Nein. Ich habe nicht viel. Ich kann in ein paar Minuten draußen sein.“

Statt zu antworten, wanderte sein Blick über mich. Das bescherte mir ein warmes Gefühl, dass sich tief in mir einnistete. Er presste seine Lippen zusammen, nickte mir zu und ging wieder nach unten.

Nun, das war es dann wohl. Ich würde eine Entscheidung treffen müssen. Ich warf meine paar Habseligkeiten in die Tasche, schaute mich noch ein letztes Mal im Spiegel an und verließ das Zimmer.

„Ich bin raus“, informierte ich Cali, den ich in der Küche fand.

„Okay, danke“, sagte er und lief hinter mir zum Zimmer hinauf.

Da ich ohnehin nirgendwohin konnte, gesellte ich mich zu den Gästen im Wohnzimmer. Es war ein gemütlicher Ort. Die Möbel hatten Vogelbilder auf den Polstern. Es gab einen kunstvoll verzierten Läufer unter dem Couchtisch davor und Regale voller Bücher und Nippes aus der ganzen Welt umgaben sie.

Ich fragte mich, wie es wohl war, an einem solchen Ort groß zu werden. Es fühlte sich wie ein Zuhause voller Liebe an. Ich wusste, was das bedeutete. Mein Vater war seiner Familie gegenüber äußerst hingebungsvoll. Meine Mutter, mein Bruder und ich waren alles für ihn. Es war der Rest der Welt, der Grund hatte, ihn zu fürchten.

Cali brauchte nur zwanzig Minuten, um zurückzukehren und die neuen Gäste in ihre Zimmer zu bringen. Er sah mich an und für einen Moment hielten wir den Blickkontakt. Doch das war alles. Er war beschäftigt. Ich verstand es. Wie hätte er wissen sollen, was ich durchmachte? Außerdem hatte er echte Sachen, um die er sich kümmern musste.

Als er nach dreißig Minuten wieder das Wohnzimmer betrat und ich mich immer noch nicht vom Fleck bewegt hatte, war mir das unendlich peinlich. Ich konnte ihn nicht anschauen.

„Ist alles okay?“, fragte er mich und zog meinen Blick auf sich.

Ich sah ihn an und Tränen traten in meine Augen. Ich verhielt mich lächerlich. Das wusste ich. Ich hatte andere Möglichkeiten. Es gab nichts, über das ich mich beschweren konnte. Und doch saß ich hier und weinte, während derjenige, der vielleicht seine Mutter verlieren könnte, stark blieb.

„Es tut mir leid. Ich werde dir nicht mehr auf die Nerven gehen“, sagte ich und stand auf, schnappte meine Tasche und eilte zur Tür.

„Warte. Stopp!“, befahl er und ich hielt an. Ich schaute in die andere Richtung, konnte ihn nicht ansehen.

„Du hast kein Auto.  Wo willst du hin?“

„Ich werde ein Taxi rufen.“

„Wenn du das hättest tun können, hättest du das bereits getan. Hast du irgendeinen Ort, an dem du bleiben kannst?“

„Du brauchst dir wirklich keine Gedanken um mich zu machen. Wie geht es deiner Mutter?“

Als er nicht antwortete, schaute ich ihn an. Schmerz durchzuckte ihn.

„Der Arzt sagte, dass sie wieder in Ordnung kommen wird. Aber ich konnte es kaum ertragen, sie so zu sehen. Sie ist immer so voller Leben, weißt du. Sie dort mit all diesen Schläuchen an ihr liegen zu sehen, konnte ich nicht ertragen.“

Ohne nachzudenken eilte ich zu ihm und ergriff seine Schultern.  Hätte ich vorher darüber nachgedacht, hätte ich es vielleicht nicht getan. Doch als er sich mir nicht entzog, war ich froh, dass ich dem Impuls gefolgt war.

„Der Arzt sagt, dass sie in Ordnung kommt?“

Er nickte bejahend.

„Das ist wirklich gut. Ich kann dir nicht sagen, wie glücklich ich bin, das zu hören.“

So als ob er es bereuen würde, dass er mir einen Blick unter seine Maske gestattet hatte, straffte er sich schnell wieder und trat zurück.

„Danke. Und es tut mir leid, was mit deinem Auto passiert ist. Meine Mutter ist versichert. Die Versicherung wird sich darum kümmern.“

„Ganz im Ernst, mach dir darüber keine Gedanken. Kümmere dich um deine Mutter und alles, was sonst noch bei dir los ist.“

„Ich bin okay. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Hast du irgendeinen Ort, an dem du bleiben kannst?“

Ich fragte mich, was ich ihm erzählen sollte. Ich hatte bereits gesagt, dass ich schon klar kommen würde. Er hatte diese Antwort nicht akzeptiert. Ich entschied mich für die Wahrheit und schüttelte meinen Kopf.

„Dann wirst du hierbleiben“, sagte er freundlich.

„Aber das Zimmer ist vergeben.“

„Du wirst in meinem Zimmer bleiben“, meinte er bestimmt.

Mein Mund klappte auf, während ich ihn anstarrte und mich fragte, was genau das zu bedeuten hatte. Er stellte es schnell klar.

„Ich übernachte im Zimmer meiner Mutter. Mein Zimmer macht nicht viel her, aber …“

„Ach Quatsch, danke. Ich bin sicher, dass es mehr als ausreichend ist“, erwiderte ich erleichtert.

„Ich bräuchte allerding ein paar Minuten, um kurz aufzuräumen und vielleicht auch die Laken zu wechseln“, sagte er und seine hellen Wangen wurden dabei rot.

„Mach dir keine Umstände“, bestand ich.

„Nein, gib mir eine Minute. Ich bin sofort wieder das“, sagte er und lief schnell die Treppen hinauf.

Ich beobachtete seinen Hintern beim Gehen. Verdammt!

 

 

Kapitel 2

Cali

 

 Als ich sie den Flur entlang zu meinem Zimmer führte, stellte ich mir das Mädchen vor, das mir folgte. Ihre zerzausten lockigen Haare hingen bis zur Hälfte ihrer Stirn.  Und ihre großen Augen und vollen rosigen Lippen erinnerten mich an eine Kewpie Puppe. Das musste das wohl heißeste Mädchen sein, das ich je getroffen hatte.

Allerdings war das gerade nicht die richtige Zeit, um darüber nachzudenken. Ich musste mich um andere Dinge kümmern. Meine Mutter war im Krankenhaus. Es fiel mir schwer, mir nicht selbst die Schuld dafür zu geben, dass sie dort war.

Seitdem Titus, Claude und ich herausgefunden hatten, dass wir Brüder waren, war die Atmosphäre zwischen meiner Mutter und mir angespannt. Als ich sie damit konfrontierte, hatte sie die Lippen aufeinandergepresst und war davongegangen. Sie wusste es. Mein gesamtes Leben lang hatte sie gewusst, dass ich Brüder hatte, und es mir nicht erzählt. Warum? Wie konnte sie mir das antun?

„Da sind wir“, sagte ich und drehte mich zu der deutlich kleineren, kurvigen Frau hinter mir um.

„Bist du sicher, dass das okay ist?“, fragte sie, ihre Augen zeigten ihre Verletzlichkeit.

„Kein Ding“, meinte ich und sah sie ausdruckslos an.

Das hinreißende Mädchen sah mich weiterhin so an, als wollte sie mir noch etwas sagen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was. Ich erwiderte ihren Blick und spürte eine Sehnsucht in meiner Brust. Ich wurde von einem Verlangen überwältigt, sie in meine Arme zu ziehen und meine Finger in dem Wirrwarr ihrer Haare zu versenken, also schaute ich weg, um mich wieder zu sammeln.

„Denkst du, dass deine Mutter bald wieder heimkommen wird?“, fragte sie und zog meinen Blick wieder auf sich.

„Keine Sorge. Du kannst den Raum solange haben, wie du brauchst.“

Hil sah verlegen aus.

„Ich habe nicht deswegen gefragt.“

Ein Blick auf sie verriet, dass das nicht der Grund war, aus dem sie gefragt hatte.

„Okay. Nein, ich bin mir sicher, dass es mindestens ein paar Tage sein werden. Der Arzt meinte, dass sie viel schlimmer aussieht, als es ihr eigentlich geht. Glücklicherweise sind es hauptsächlich Kratzer und Prellungen. Sie ist an vielen inneren Verletzungen vorbeigeschrammt, was das Ganze hätte schwierig machen können. Noch ist sie nicht ganz über dem Berg. Ich gehe morgen früh wieder hin, um nach ihr zu sehen“, erzählte ich und wurde erneut von Reue überwältigt.

„Richte ihr gute Besserung aus.“

Ich betrachtete sie. Der Schmerz in ihren Augen verriet mir, dass sie wirklich dachte, dass es ihre Schuld war, was meiner Mutter passiert war.  Ich verstand nicht warum. Sie war nicht derjenige gewesen, der sie gerammt hatte oder den Tatort einfach so verlassen hatte. Sie war diejenige gewesen, die den Krankenwagen gerufen hatte, der sie gerettet hat.

Ich presste meine Lippen zusammen und nickte, ehe ich mich umdrehte, zur Schlafzimmertür meiner Mutter ging und Hil hinter mir zurückließ. Ich öffnete die Tür am Ende des Ganges und schaute nicht zurück. Ich wollte wirklich gern, aber gleichzeitig wollte ich nicht zu sehr an ihr hängen. Sie könnte genauso gut verschwunden sein, wenn ich aufwachte, und ich hatte es satt, mein Herz gebrochen zu bekommen.

Ich hatte Probleme mit dem Vertrauen und es half auch nicht, dass die Person, der ich am meisten vertrauen konnte – oder so dachte ich zumindest -, mich eine Lüge hatte leben lassen. Also gestattete ich mir nicht, Gefühle für Hil zu entwickeln, ganz gleich wie bezaubernd ihre Augen waren. Ich musste mich vor ihr schützen.

Doch als die Tür hinter mir zu war, stellte ich sie mir wieder vor. Woraufhin mein Schwanz hart wurde. Ich legte meine Hand darauf und drückte zu.

Das war nicht das erste Mal, dass ich etwas für jemanden empfand, aber die anderen Male hatten sich nicht so angefühlt. Ich hatte schon Schwärmereien gehabt, aber das fühlte sich nach mehr an.  Und je mehr ich fühlte, desto mehr musste ich dagegen ankämpfen.

Ich versuchte es aus meinen Gedanken zu verbannen, zog mein Oberteil und meine Jeans aus und ließ mich in das Bett meiner Mutter fallen. Es war seltsam, hier zu sein. Ich hatte nicht mehr darin geschlafen, seit ich ein Kind gewesen war.

Was ich Hil gesagt hatte, stimmte. Dr. Tom, der Arzt meiner Mutter, hatte gesagt, dass er dachte, dass meine Mutter vollständig genesen würde. Was ich Hil hingegen nicht gesagt hatte, war, wie schrecklich sie ausgesehen hatte. Lilafarbene Blutergüsse bedeckten ihre helle Haut. Und mit Schmerzmitteln vollgepumpt starrte sie mich an, als wäre ich gar nicht da.

Meine Mutter war immer so stark gewesen. So voller Leben. Früher dachte ich immer, dass sie „zu aufgedreht“ war. Jetzt würde ich alles dafür geben, sie so zurückzuhaben, wie sie war.

Es musste einen Grund geben, warum sie mir nicht gesagt hatte, dass ich Brüder hatte, oder? Und warum hatte sie sich immer geweigert, mir etwas über meinen Vater zu erzählen? Es musste einen Grund geben.

Aber nichts davon war jetzt wichtig. Das Einzige, was jetzt zählte, war, dass sie gesund wurde. Und ich würde alles tun, was nötig war, damit das geschah.

 

Während ich am nächsten Morgen im Wartezimmer saß, tanzten Bilder durch meinen Kopf. Würde Mama besser aussehen? Schlechter? Versteckten die Medikamente, die sie nahm, eine Kopfverletzung, die sie ihres Elans berauben würden?

Ich hatte die Nacht zuvor kaum geschlafen, während ich darüber nachdachte. Ich war ein Narr, dass ich mit ihr gestritten hatte. Jetzt würde ich alles geben, um es zurückzunehmen.

„Mr. Shearer?“, sagte die stämmige dunkelhäutige Frau hinter dem Empfangstresen.

Ich stand schnell auf und fand mich bei ihr ein.

„Das bin ich“, sagte ich und mein Herz schlug wie wild.

„Sie können jetzt zurückgehen“, meinte sie und sah mich kaum an.

War ihr unruhiger Blickkontakt ein Indiz dafür, dass die Nacht nicht gut verlaufen war? Mir wurde heiß, als ich diese Möglichkeit bedachte.

„Sie wurde in Zimmer 201 gebracht. Das ist im zweiten Stock. Soll ich Ihnen den Weg beschreiben?“

„Sie haben sie verlegt?“

Die müden Augen der Frau begegneten meinen. Einen Moment später sprangen sie wieder nach unten auf das Papier vor ihr.

„Hier steht, dass sie aufgrund einer Verbesserung ihrer Zustandes verlegt worden ist. Das ist etwas Gutes“, meinte sie mit einem geübten Lächeln.

„Danke“, erwiderte ich erleichtert und machte mich auf den Weg zu den Treppen.

Ich mochte den Geruch von Krankenhäusern nicht. Es roch nach Tod. Das wusste ich nur zu gut. Ich könnte es nicht ertragen, meine Mutter zu verlieren. Und so sehr ich auch versuchte, nicht darüber nachzudenken, überflutete der Gedanke meinen Verstand, während ich durch die Flure lief.

Als ich Zimmer 201 erreichte, griff ich nach der Klinke und hielt inne. Ich könnte es wirklich nicht ertragen, wenn Mamas Zustand sich verschlechtert hätte. Das Ganze war ein Alptraum. Mein Herz raste und mein Atem ging schwer, als ich darüber nachdachte.

Ich sammelte so viel Mut, wie ich konnte, klopfte an und drückte leicht an der Tür. Mit angehaltenem Atem riskierte ich einen Blick hinein.

„Cali?“, sagte eine angestrengte doch bekannte Stimme von drinnen.

„Ja, ich bin’s, Mama.“

„Ich freue mich, dich zu sehen“, sagte sie mit müden Augen und einem Lächeln.

Ich ließ die Tür hinter mir zufallen und lief zur Seite ihres Bettes. Obwohl sie wacher als die Nacht zuvor war, sah sie noch schlimmer aus. All die lilafarbenen Blutergüsse waren noch dunkler geworden. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das ein gutes Zeichen sein sollte, aber hatte sie sie nicht in ein neues Zimmer verlegt, weil es ihr besser ging?

„So schlimm, was?“, meinte meine Mutter, die den Ausdruck auf meinem Gesicht zu deuten wusste.

„Nein, Mama.  Du siehst besser aus.“

Meine Mutter lächelte. „Ich verrate dir ein Geheimnis, Cali. Es steht dir ins Gesicht geschrieben, wenn du lügst. Ein Mutter weiß das“, sagte sie und betonte dabei ihren normalerweise leichten jamaikanischen Akzent.

Stimmte das? Wusste sie, wann ich log? Dieses Mal log ich definitiv.

„Mama, wie ist das passiert?“

Traurigkeit trat in die Augen meiner Mutter. Es war dieselbe, die sie bekam, wenn ich meine kürzlich gefundenen Brüder zur Sprache brachte.

„Hat das etwas mit meinem Vater zu tun?“

Sie sah mich an, blickte mir tief in die Augen.

„Es stimmt doch, oder?“

„Das weiß ich nicht. Und auch du weißt es nicht, es macht also keinen Sinn, weitere Fragen zu stellen.“

„Wovon redest du? Mir wurde erzählt, dass dein Auto von hinten angefahren wurde. Du hättest getötet werden können. Ich habe dich fast verloren. Wenn du immer noch in Gefahr bist, muss ich das wissen.  Wenn dir jemand wegen mir wehtun will …“

Mama nahm meine Hände in ihre. Ich sah sie an und konnte nur all die Schläuche sehen, die an ihren Armen angebracht waren.

„Was passiert ist, war ein Unfall. Mehr war da nicht.“

„Aber was, wenn doch? Du musst mir sagen, wer mein Vater ist. Wenn er jemand Gefährliches ist, muss ich es wissen. Titus, Claude und ich müssen das wissen.“

Zum ersten Mal, seit ich herausgefunden hatte, dass es mehr in meiner Vergangenheit gab, als mir erzählt worden war, sah mich meine Mutter mit Mitgefühl an.  Ich hoffte, dass dem auch eine Erklärung folgen würde. Doch die kam nicht.

„Selbst jetzt sagst du nichts?“

„Cali, es gibt nichts zu sagen.“

So erleichtert ich auch war, dass meine Mutter wieder mehr sie selbst war, so wütend war ich wieder auf sie. Ich verdiente es, die Wahrheit zu wissen. Sie hielt einen Teil dessen, wer ich war, von mir fern.

Vielleicht würde es einige Dinge über mich erklären, die ich nicht verstand, wenn ich wüsste, wer mein Vater war. Ich wollte meine Mutter anschreien, konnte es aber nicht. Nicht jetzt und vielleicht auch niemals wieder.

„Ich nehme eine Auszeit von der Uni, um mich um die Pension zu kümmern“, wechselte ich das Thema.

„Nein!“, erwiderte sie nachdrücklich.

„Was meinst du mit nein? Wir haben Gäste, die eingecheckt haben. Jetzt, wo das Geschäft langsam in die Gänge kommt, müssen wir uns um das Feedback Gedanken machen.“

„Versprich mir, dass das deine Schularbeit nicht beeinflussen wird.“

„Glaubst du wirklich, dass ich mir gerade Gedanken um die Uni mache? Verstehst du, wo du gerade bist?“

„Versprich es mir!“

„Mama!”

„Ich sagte, versprich es mir! Deine Ausbildung ist das Wichtigste. Das sollte immer an erster Stelle kommen.“

„Es gibt nichts Wichtigeres, als dich wieder auf den Damm zu bekommen“, erklärte ich ihr.

Sie drückte meine Hand. „Danke. Aber die Ärzte hier werden sich darum kümmern. Denk du lieber nur an deine Noten. Ich kümmere mich um das Geschäft.“

„Das sagst du, aber was könntest du wohl von diesem Bett aus machen?“

„Mehr als du denkst“, erwiderte sie mit einem Lächeln.

Ich sah auf meine Mutter hinab, bedeckt mit lauter Blutergüssen, aber immer noch der Meinung, dass sie alles erledigen könnte. Das war die Frau, mit der ich aufgewachsen war. Nicht mal ein Sturz in eine vierzig Fuß tiefe Schlucht konnte sie aufhalten. Ich lächelte und gab nach.

„Ich bleibe an der Uni. Aber ich werde eine Pause einlegen, wenigsten für ein paar Tage.“

„Nein, das wirst du nicht.“

„Mama, jetzt wird es aber lächerlich.“

„Versprich es“, meinte sie sanft, aber mit mehr Gewicht, als jedwede zwei Wörter verdient hätten.

„Ich verspreche es“, sagt ich und wusste, dass sie die Meisterin im Möglichmachen des Unmöglichen war. Nun musste ich nur noch herausfinden, wie ich dasselbe tat.

 

 

Kapitel 3

Hil

 

„Na schön, Hil. Du musst mir sagen, wo du bist”, beharrte Dillon.

„Ich habe dir doch gesagt, mir geht es gut“, sagte ich und sah mich in Calis Zimmer voller Footballkram um.

„Das sagst du, aber woher weiß ich, dass das stimmt? Schließlich kommt das von der Person, die meinte, dass sie für ein paar Tage nicht erreichbar sein würde, und dann für mehr als eine Woche von der Bildfläche verschwunden ist. Hört sich das nach jemandem an, auf dessen Wort ich zählen kann?“

So sehr ich mich auch sträubte es zuzugeben, Dillon hatte recht. Es war beschissen von mir gewesen, das zu tun. Ich war einfach abgehauen, ohne jemandem zu sagen, wohin ich ging und wann ich zurück sein würde.

Ich bereute nicht, das getan zu haben, denn es war der einzige Weg, um mal herauszukommen. Und was, wenn mein Vater oder gar mein Bruder sie kontaktieren würden? Dillon war eine wirklich schlechte Lügnerin. Wenn sie es wüsste, dann wüssten sie, dass sie es wusste, und irgendwann würden sie es auch aus ihr herausbekommen. 

Ich beschützte Dillon, indem ich ihr nicht sagte, dass ich wegging … selbst wenn es mich umbrachte, dass sie nicht länger das Gefühl hatte, mir vertrauen zu können … denn Dillons Vertrauen bedeutete mir alles …

„Na gut“, gab ich unter dem Gedanken, dass ich sie als Freundin verlieren könnte, nach. „Ich werde dir sagen, wo ich bin, aber keine Einzelheiten.“

„Du kennst mich doch, ich nehme, was ich kriegen kann“, erwiderte Dillon und bezog sich scherzhaft auf ihr Liebesleben.

Ich lachte.

„Ich befinde mich gerade im Schlafzimmer eines heißen Footballspielers und liege wohlig eingepackt in seinen Bett.“

Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause, der ein schrilles: „Was?“, folgte.

Ich konnte das Lächeln, das sich über mein Gesicht zog, nicht verhindern.

„Ja. Ich schaue mir gerade all seine Footballausrüstung an“, erzählte ich und schaute mir die Sportausrüstung an, die in der Zimmerecke aufgetürmt war.

„Oh, jetzt musst du mir erzählen, wo du bist.“

„Ich habe dir gesagt, dass es mir gutgeht.“

„Hm, du hörst dich ein bisschen besser als einfach nur gut an.“

„Vielleicht“, sagte ich mich einem Lächeln.

„Aber ich verstehe das nicht. Gestern hast du mir gesagt, dass du denkst, dass du jemanden umgebracht hast.“

Ich erinnerte mich, wie es sich angefühlt hatte, im Krankenhaus auf Cali zu warten, und das Lächeln verschwand von meinem Gesicht.

„Ja. Das ist auch passiert.“

„Wie hast du jemanden beinahe umgebracht?“, fragte Dillon vorsichtig.

„Ich hätte das Familienauto loswerden sollen, als ich an der ersten Autovermietung vorbeigekommen bin.“

„Übrigens, Hil, wann hast du deinen Führerschein gemacht?“

Dillon kannte die Antwort auf diese Frage. Ich hatte ihn nicht gemacht. Wir beide waren nicht nur in New York City aufgewachsen, sondern ich hatte auch einen Fahrer, der mich überall hinbrachte, wo ich wollte. Und wenn wir ankamen, wurde mein Fahrer zu meinem Bodyguard. So konnte man nicht erwachsen werden.

Gut, fairerweise muss gesagt werden, dass es weniger als zwei Wochen auf mich allein gestellt gebraucht hat, bis jemand mein Auto von der Straße gedrängt hat. Machte ich einen riesigen Fehler, wenn ich keinen Schutz hatte? Unterzeichnete ich mein eigenes Todesurteil, indem ich vor den Leuten davon lief, die dafür bezahlt wurden, mich zu beschützen? 

Darüber wollte ich gerade nicht nachdenken. Ich war losgezogen und wollte das Beste daraus machen. Ich musste herausfinden, wie es war, ein Leben zu haben.

Remy hatte eins und als der Erstgeborene meines Vaters befand er sich in deutlich größerer Gefahr als ich. Und doch stellte mein Vater ihm keinen Bodyguard zur Seite. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Nur ich war es, von der er dachte, dass sie nicht auf sich selbst aufpassen konnte. Ich musste ihm das Gegenteil beweisen. Ich musste ihm zeigen, dass ich es auf eigene Faust schaffen konnte.

„Hat Remy wieder nach mir gefragt?“

„Seitdem ich das letzte Mal mit dir gesprochen habe?“

„Remy kann hartnäckig sein.“

Dillon lachte. „Schön wär’s. Ich weiß ja nicht, ob du das schnallst, aber dein Bruder ist heiß. Er könnte mir jederzeit an die Wäsche und würde bekommen, was er will.“

„Und genau darum kann ich dir nicht sagen, wo ich bin“, sagte ich enttäuscht. „Und übrigens: igitt.“

Dillon erwiderte nichts darauf.

Ich war immer unsicher gewesen, wenn es um Remy ging. Er und ich waren uns absolut nicht ähnlich. Er hatte nicht nur die Größe abbekommen, sondern auch all die Muskeln und Tattoos. Ich war nur seine fette kleine Schwester, die jemanden brauchte, der alles für sie erledigte. Ich hasste das. Ich würde alles tun, damit das nicht wahr war.

„Ich muss jetzt los“, sagte ich Dillon, denn ich hatte meine Begeisterung für das Gespräch verloren.

„Gehen, um was zu tun?“, bohrte sie nach.

„Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. Ich stecke hier momentan so ziemlich fest. Vielleicht mache ich Frühstück. Dann denke ich über alles Weitere nach.“

„Ich will, dass du mich jeden Tag anrufst, um mich wissen zu lassen, dass es dir gutgeht. Wenn du nicht willst, dass ich Remy erzähle, dass ich von dir gehört habe, musst du mir wenigstens das zugestehen.“

„Ich werde dich anrufen“, meinte ich und verbarg, wie viel es mir bedeutete, dass sie sich Sorgen machte.

„Und du weißt auch, dass du mir mehr Details über diesen Footballspieler geben muss, ja?“

Ich lächelte.

„Sobald es etwas zu teilen gibt, glaub mir, wirst du die erste Person sein, der ich es erzähle.“

„Halt die Ohren steif“, sagte sie mit so viel Aufrichtigkeit, dass ich wusste, wie viele Sorgen sie sich wirklich um mich machte.

„Versprochen“, sagte ich, beendete das Telefonat und schaute mich um.

Was würde ich heute tun? Die vorangegangenen Tage hatte ich damit verbracht, die Wanderrouten abzufahren, die Dr. Sonya mir empfohlen hatte. Wirklich gewandert bin ich allerdings nicht. Das wäre verrückt gewesen. Aber die Aussicht von den Ausgangspunkten war wunderschön gewesen.

Das war allerdings auch noch zu einer Zeit, als ich ein Auto besaß. Ich musste etwas dahingehend unternehmen. Aber was? Das einzige Geld, das ich noch hatte, waren ein paar hundert Dollar in meinem Portemonnaie. Das würde mich nicht sonderlich weit bringen.

Ich sah keine Möglichkeit, wie es anders enden sollte, als dass ich zurück zu meiner Familie kroch und meine Niederlage eingestand. Womöglich war das unausweichlich, doch das hieß noch lange nicht, dass es heute so weit war. Was allerdings auf jeden Fall jetzt stattfinden würde, war ein Frühstück. Hoffentlich würde es bereits auf mich warten, wenn ich nach unten käme.

Ich riss mich für den Augenblick zusammen, wenn ich den hinreißenden Kerl sehen würde, der nur wenige Türen weiter geschlafen hatte, und verließ mein Zimmer in Richtung Küche. Ich lief durch das Wohnzimmer und sah dieselben Pärchen, die gestern da gewesen waren, als ich vom Krankenhaus zurückgekommen war.

„Entschuldige, du übernachtest doch auch hier, oder?“, fragte der dünne, gräulich aussehende Mann in Flanellhemd und Wanderstiefeln.

„Ja. Ihr habt gestern Abend eingecheckt, nicht wahr?“

„Ja. Weißt du, ob es hier auch Frühstück geben soll?“, fragte er und eine Erkenntnis blitze in meinem Kopf auf.

Der hinreißende Typ hatte gesagt, dass er zeitig ins Krankenhaus fahren würde. Er ging dahin, um seine Mutter zu besuchen, und da seine Mutter diejenige war, die das Frühstück herrichtete, würde die Küche aktuell leer sein.

„Ja, gibt es. Und es ist für gewöhnlich großartig. Aber …“ Meine Augen sprangen hin und her, während ich darüber nachdachte, was ich sagen sollte.

„Aber?“, echote der Mann.

Ich sah ihn an und hatte eine Idee.

„Aber es ist vielleicht etwas weniger üppig heute Morgen. Könnt ihr mir einen Moment geben? Ich werde mal nachschauen“, meinte ich begeistert von meiner Idee.

Ich verließ die Gruppe und ging in die Küche. Ich sah mich um und nichts erschien wirklich einschüchternd. Hatte ich unserem Chefkoch nicht tausendmal zugesehen?  Einige der Sachen, die ich gesehen hatte, mussten doch bei mir hängen geblieben sein, richtig?  Wie schwer könnte es schon sein, Frühstück zu machen?

Ich öffnete den gut bestückten Kühlschrank und blickte hinein.  Es gab alles. Es sah nach ausreichend Essen für eine ganze Armee aus. Es war überwältigend.

„Eier“, sagte ich und erinnerte mich an die köstlichen Rühreier, die Dr. Sonya am Morgen zuvor für mich gemacht hatte.

Ich nahm eines heraus, sah es an und holte dann ein weiteres heraus. Das waren definitiv Eier. Daran bestand kein Zweifel. Und irgendwie sollte das Innenleben da gekocht und mit einer kleinen Garnitur an der Seite auf einen Teller gelegt werden.

Was tat ich da? Ich wusste nicht, wie man Rührei machte. Ich wusste nicht mal, wie man ein Ei kochte. Wenn ich für eine Woche in einer voll ausgestatteten Küche alleingelassen würde, würde ich wahrscheinlich verhungern.

„Weißt du, ob es bald fertig ist?“, fragte der ungepflegte Typ und steckte seinen Kopf durch die Küchentür. „Wir haben in einer Stunde eine Wandertour. Wir haben uns gefragt, ob wir stattdessen nicht im Diner die Straße runter frühstücken.“

„Nein, ihr braucht nirgendwo anders hinzugehen. Frühstück ist in einem Moment fertig. Ich lasse euch wissen, wenn es gerichtet ist“, sagte ich und versteckte meinen Schrecken mit einem Lächeln. Ich war mir sicher, dass er es nicht bemerkt hatte.

Als er mit einem zweifelnden Blick zurückging, kehrte ich zu der unmöglichen Aufgabe vor mir zurück und versuchte, nicht in Panik auszubrechen.

Ich schloss meine Augen, atmete tief durch und beruhigte mich.

„Du kannst das schaffen, Hil. Es muss nichts Ausgefallenes sein. Es braucht nur etwas zu sein, das als Frühstück durchgeht.“

Mit meiner neuen Mission legte ich die Eier in ihren Behälter im Kühlschrank zurück.  Rühreier waren mittlerer Schwierigkeitsgrad. Ich war Anfänger. Also schaute ich mich nach etwas um, das Anfängerlevel war.

Hinten auf der obersten Ablage waren einige Teigteilchen.

„Ein kontinentales Frühstück?“, dachte ich nach und erinnerte mich an ein paar Familienausflüge nach Frankreich.

Ich holte die Croissants heraus und öffnete jeden Schrank, bis ich die Teller fand. Ich arrangierte sie so schön ich konnte und suchte dann nach einem Messer und der tönernen Butterglocke, die Dr. Sonya auch mir die letzten Morgen gegeben hatte.

„Da ist sie ja“, sagte ich erleichtert.

Das war schon gut, aber ich brauchte noch etwas anderes.

„Müsli!“, sprudelte es aus mir heraus und ich konnte nicht fassen, dass ich nicht schon vorher daran gedacht hatte.

Ich durchwühlte die Schränke und fand zwei Pakete Müsli. Ich würde der Gruppe beide anbieten. Ich holte Schüsseln und Milch und brachte alles zur Schwingtür hinaus auf den Esszimmertisch, wo ich es anrichtete. Wenige Momente später kam ich mit den Croissants zurück, dann rief ich die Gruppe in den Essbereich und beobachtete nervös ihre Gesichter.

Sie sahen nicht allzu enttäuscht aus. Sollte ich das als Gewinn verbuchen? Ich meine, ich hatte herausgefunden, wie man vier Personen verköstigte. Man konnte mich praktisch als Lebensspender betrachten.

„Danke“, meinte der Anführer der Gruppe, ehe sich alle hinsetzten und zugriffen.

Ich tat mich schwer, meine Aufregung zu verbergen, und meinte: „Lasst mich wissen, wenn ihr noch etwas braucht“, bevor ich mich in die Küche zurückzog.

Es fiel mir schwer zu beschreiben, wie großartig ich mich fühlte, dass ich mich darum gekümmert hatte. Vielleicht war ich doch nicht so hilflos, wie alle anderen dachten. Vielleicht konnte ich das schaffen. Es war ja nicht so, dass alle anderen klüger waren als ich. Es war nur so, dass mir bisher niemand die Gelegenheit gegeben hatte. Ich hatte das nie tun müssen. Aber wenn ich es doch tat, könnte ich an der Situation wachsen?

Ich wartete in der Küche darauf, dass die Pärchen fertig wurden, und kehrte mit einem Plan in den Essbereich zurück. Die Aufregung ließ mich ganz kribbelig werden. Das wäre etwas, das ich mir vor wenigen Tagen noch nicht einmal hätte vorstellen können. Aber ich war sicher, dass ich das tun könnte.

Ich sammelte die Teller und das übriggebliebene Essen ein, stellte alles weg und legte das Geschirr in das Spülbecken. Ich sah mich um, was ich sonst noch tun könnte, und realisierte, dass das Geschirr sich nicht von selbst waschen würde. Die Frage war jedoch, wie wusch man Geschirr?

Ich sah mich um und entdeckte eine Flasche mit Geschirrreiniger. Ich fragte mich, wie es wohl funktionieren würde, und drückte ein bisschen davon in die Schüsseln. Die neongrünen Linien lagen einfach da. Ich war mir nicht ganz sicher, was ich tun sollte.

Ich fand hinten an der Spüle einen Schwamm und mir kam ein neuer Plan in den Sinn.  Es war doch eigentlich genauso wie ein Bad zu nehmen, oder? Nur eben mit Geschirr? Mehr war es doch gar nicht. Richtig?

Als ich das erledigt hatte, stellte ich alles auf das Trockengestell und sah zufrieden darauf hinab. Ich hatte gerade zum ersten Mal Geschirr gewaschen. Es war wirklich gar nicht so schwer. Darüber hinaus empfand ich eine Erfüllung, die ich selten fühlte. Ich war wirklich zu mehr fähig, als alle anderen mir zugestanden.

Voll neuer Begeisterung verließ ich die Küche und ging in mein Zimmer.  Ich musste herausfinden, was ich sonst noch tun könnte. Es musste doch etwas geben, oder? Dann dachte ich an Dillon. Ihre Mutter war unsere Haushälterin gewesen. Wenn es jemanden gäbe, der es wüsste, dann wäre sie es.

„Wie führt man eine Frühstückspension?“, fragte ich meine Freundin.

„Woher soll ich das wissen? Ich war nie in so einer Pension. Hast du vergessen, dass ich es noch nicht weiter als New Jersey geschafft habe?“

„Ich weiß“, erwiderte ich und fühlte mich schlecht wegen meiner Annahme. „Es ist nur …“

„… weil meine Mutter Haushälterin ist?“

„Nein!“

„Ernsthaft Hil?“

„Gut. Ist es so schlimm?“

„Toll ist es nicht gerade.“

„Entschuldige.“

„Nein, schon okay. Ich schätze, ich bin einfach empfindlich. Alle auf dieser Schule verhalten sich, als würden sie ihren Kamin mit Geld heizen. Sie laden mich ständig zu Dingen ein, die ich mir nie im Leben leisten kann.“

„Wenn du Geld brauchst, kann ich dir welches schicken …“, sagte ich und fühlte mich schlecht.

„Darum habe ich es nicht erwähnt, Hil. Sei bitte einfach nur meine beste Freundin jetzt.“

Ich schluckte und wusste nicht, wie viele Dinge ich schon unglücklich formuliert hatte. Ich wollte sie unterstützen. Und war Geld nicht die Art, wie meine Eltern zeigten, dass sie sich kümmerten? Moment. Verhielt ich mich gerade wie meine Eltern? Huch!

„Du hast recht, Dillon. Und das ist scheiße. Aber ich kenne dich. Du bist wahrscheinlich das tollste Mädchen da. Du bist die beste Person, die ich kenne.

„Und wenn ich nicht das einzige Mädchen wäre, das du kennst, würde mir das so viel bedeuten, Hil“, erwiderte Dillon und hörte sich beinahe ernst an. 

„Wie dem auch sei“, sagte ich mit einem Lachen. „Du weißt, was ich meine.“

„Du meinst, dass du mich liebst. Ja, ich verstehe. Und ich liebe dich auch.“

Ich nahm mir einen Moment, um darüber nachzudenken, wie viel Glück ich hatte, Dillon einen Teil meines Lebens nennen zu können, ehe ich meine Gedanken zu meinem brillanten Plan zurücklenkte.

„Also, denkst du, deine Mutter weiß, wie man eine Pension führt?“

Während Dillon eine ganze Reihe von Gründen aufführte, warum sie sie nicht fragen würde, machte ich mir eine Liste, um meine eigene Frage zu beantworten. Das Meisten konnte in zwei Worten zusammengefasst werden: ‘sei fantastisch.’ Wie schwer könnte das sein?

Die nächsten Stunden redete ich mit Dillon. Als sie auflegte, um zu ihren Kursen zu gehen, lief ich voller Energie durch das Haus. Das blieb so, bis Cali wiederkam. Als ich die Haustür hörte, eilte ich hinunter, um ihn zu begrüßen. Er schien über meine Anwesenheit überrascht zu sein, als ich die Treppen herunterkam. Er sah mich mit einem gequälten Blick an. Ich erstarrte.

„Geht es deiner Mutter gut?“, fragte ich und hatte plötzlich einen Klumpen im Hals.

„Sie fühlt sich besser, danke“, entgegnete er, eher er an mir vorbei zur Treppe ging.

„Warte mal, kann ich mit dir über etwas reden?“, zog ich seine Aufmerksamkeit auf mich. Die Art, wie seine unbeugsamen Augen mit ansahen, als er sich umdrehte, bescherte mir weiche Knie.

„Was gibt’s?“, meinte er barsch.

Ich wusste, dass er eine schwierige Zeit durchmachte, also versuchte ich, es nicht persönlich zu nehmen. Allerdings ließ es mich auch darüber nachgrübeln, wie er aussah, wenn er lächelte.

Er sammelte sich und ließ seinen Kopf mit einem entschuldigenden Blick hängen.

„Es tut mir leid. Mir geht gerade nur sehr viel durch den Kopf.“

„Das ist vollkommen in Ordnung. Es ist viel passiert. Was auch der Grund ist, warum ich mit dir reden wollte.“

Er drehte sich um und sah mich fragend an. Ich spürte die Hitze seines Blickes. Das reichte schon aus, damit ich unanständige Gedanken über ihn hatte. Für den Moment schob ich sie beiseite, atmete durch, sammelte mich und bat ihn, mir zu folgen.

Ich führte ihn in die Küche und zeigte ihm das Geschirr, das ich gewaschen hatte.

„Also, heute Morgen haben die anderen Gäste nach dem Frühstück gefragt.“

„Oh scheiße!“

„Schon okay. Ich habe mich darum gekümmert.“

„Du hast dich darum gekümmert?“

Ich lächelte. „Ja. Ich habe ihnen ein paar der Croissants aus dem Kühlschrank angeboten und Müsli. Ich weiß, das ist nicht das, was deine Mutter normalerweise vorbereitet, aber sie schienen ganz glücklich damit zu sein. Und es war etwas, um das du dich nicht kümmern musstest.“

Cali sah mich wortlos an.

„War das in Ordnung?“

„Ja, natürlich. Es tut mir einfach nur leid, dass du das tun musstest. Das war meine Aufgabe.“

„Mach dir keine Gedanken. Tatsächlich hatte ich mir gedacht, dass ich dir noch mehr aushelfen könnte. Ich meine, bis deine Mutter zurückkommt. Aber selbst dann bin ich mir sicher, dass es Dinge gibt, mit denen ihr Hilfe brauchen werdet“, schlug ich vor und versuchte, meine Verletzlichkeit zu verbergen.

Cali sah mich einfach an. Ich schmolz unter seinem Blick. Was dachte er? Dachte er genauso wie alle anderen über mich? Unfähig, mich um mich selbst zu kümmern, ganz zu schweigen von etwas, das so kompliziert war wie dieser Ort? Ich wollte mein Angebot gerade zurückziehen, als er meinen Qualen ein Ende bereitete.

„Hast du schon mal in einer Frühstückspension gearbeitet?“

„Nein, aber ich habe eine Menge Erfahrung darin, Leuten in einer Frühstückspension zuzusehen“, meinte ich und wusste, dass das nicht mal annähernd dasselbe war.

Der umwerfende, gutgebaute Mann starrte mich weiterhin an. Je länger er das tat, desto nackter fühlte ich mich. Ich konnte es nicht mehr länger aushalten. „Bitte sag etwas.“

„Tut mir leid“, meinte er ehrlich. „Ich habe gerade nur an etwas gedacht, was meine Mutter gesagt hat.“

„Was denn?“