DER FLUCH MEINES GEFÄHRTEN

Vorwort

Titus

 

Als ich die Tribüne der Trainingseinrichtung betrat, fragte ich mich, ob ich einen Fehler gemacht hatte. Nero mit seinem neuen NFL-Team das Trainingslager durchlaufen zu sehen, erinnerte mich an meine besten Zeiten in der Highschool. Sicher, als Spieler war ich nicht mit Nero vergleichbar, aber die Kameradschaft, die Konkurrenz, das hatte ich vermisst.

Ich habe meine Zeit im Team der East Tennessee State wirklich nicht ausreichend genutzt. Ich habe nicht alles gegeben, was ich hatte. Ich bin ein Wolfsgestaltwandler. Außer Nero waren alle anderen im Team Menschen. Es fühlte sich nicht richtig an, alles zu geben.

In der Highschool gab es mehr als nur zwei von uns und der Rest des Teams wusste, was wir waren. An der East Tennessee fühlte es sich anders an. Aber auf den Tribünen zu sitzen und alles zu sehen, was ich verpasst habe, vermittelte mir das Gefühl, dass ich hätte mehr tun sollen …

„Oha!“, sagte ich, als Neros Kopf nach hinten ruckte, nachdem ein Schrank von einem Mann ihm seinen Unterarm gegen den Hals rammte. „Was war das denn?“, fragte ich fassungslos.

Ich ließ mich ein paar Meter von den anderen Zuschauern entfernt nieder und sah zu, wie Nero sich sammelte. Er war nicht bekannt dafür, sein Temperament kontrollieren zu können. Aber ich musste ihm Anerkennung zollen. Das Trainingslager war zermürbend und zog sich ewig hin. Der alte Nero hätte sich inzwischen verwandelt und jemandem die Kehle herausgerissen. Ich wusste nicht, wie er sich unter Kontrolle hielt.

Nero sah aus, als würde er gleich explodieren, als er den Kerl anstarrte, der unfair gespielt hatte.

„Bleib ruhig, Nero. Reiß dich zusammen“, flüsterte ich.

Nero schaute auf die Tribüne. Er hatte mich gehört. Es war eine beeindruckende Entfernung. Er musste nur eine Haaresbreite davon entfernt gewesen sein, sich zu verwandeln. Stand ich kurz davor, das Ende seiner Karriere zu erleben, bevor sie überhaupt begonnen hatte?

Nein. Nero klopfte sich ab, sammelte sich und nahm seine Position in der hinteren Reihe wieder ein.

Im nächsten Spielzug musste Nero wieder rennen. Dieses Mal kreuzte er einen anderen Spieler, täuschte an und schoss dann auf das offene Feld zu. Er war fast frei und frei, bis Mr. Foul wie aus dem Nichts auftauchte und Neros Füße wegfegte.

„Hat das denn niemand gesehen?“, schrie ich und sprang auf meine Füße. „Das ist ein Trainingslager. Er darf seine Beine nicht einfach so wegsensen. Das ist verrückt!“

Anscheinend sah Nero das auch so, denn anstatt es einfach so hinzunehmen wie beim vorherigen Mal, riss er seinen Helm herunter und stürzte sich auf ihn. Es brauchte das halbe Teams, um sie zu trennen. Am Ende ließ Nero sie gewähren.

Es war unglaublich, wie viel Zurückhaltung er an den Tag legte. Ich weiß nicht einmal, ob ich nach so einem unfairen Spielzug widerstehen könnte, mich zu verwandeln. Aber Nero konnte es. Er war ein besserer Wolf als ich, auch wenn das seinen Trainer nicht davon abhielt, Nero vorzeitig aus dem Spiel zu nehmen.

„Du bist neu hier, nicht wahr?“, sagte ein Typ neben mir.

„Was?“, schnappte ich und drehte mich zu ihm um.

„Das da unten ist dein Kumpel?“, fragte der Typ mit einem Lächeln.

„Ja. Und?“

„Du solltest ihn wissen lassen, dass er mit Big Mac spielt.“

„Wer? Der Typ, der unfair spielt?“

„Es ist das Beste, wenn dein Freund ihm aus dem Weg geht.“

„Vielleicht sollte Big Mac meinem Freund aus dem Weg gehen. Er weiß nicht, mit wem er es zu tun hat.“

„Ich glaube nicht, dass Big Mac sich groß darum kümmert“, sagte er mit einem Schmunzeln.

Ich schaute wieder auf das Spielfeld und konzentrierte mich auf Big Mac. Ja, der Mann war riesig. Na und? Neros Wolf war größer. Nero musste das Gleiche denken, denn als ich nach dem Training im Truck auf Nero wartete, stieg er immer noch brodelnd ein.

„Noch nicht“, sagte Nero, als ich in Richtung Zündung griff.

„Was ist los?“

„Du hast zugeschaut, oder?“

„Du sprichst von den letzten beiden Spielen?“

„Ja. Er hat das die ganze Woche lang mit mir gemacht. Ich werde dieser Scheiße jetzt ein Ende setzen.“

„Nero, was gedenkst du zu tun?“, fragte ich und wusste bereits, dass das nicht gut enden würde.

„Wir werden ihm nur zeigen, mit wem er es zu tun hat.“

„Wir?“

Nero drehte sich zu mir. „Ja. Du hältst doch zu mir, oder?“

„Immer. Aber bist du dir sicher, dass dies der richtige Weg ist, damit umzugehen.“

„Folge einfach meinem Beispiel. Diese Scheiße hört jetzt endgültig auf.“

Nero schaute zum Spielerausgang und wartete. Mein Herz klopfte währenddessen. Ich konnte fühlen, wie sich mein Wolf an die Oberfläche drängte. Das konnte keinesfalls eine gute Entscheidung sein. Aber welche andere Wahl hatte ich, als Nero zu unterstützen?

Als ein großer, in Goldketten gehüllter Mann herauskam, richtete sich Nero auf.

„Das ist er. Lass uns gehen“, meinte er, ohne eine Antwort abzuwarten.

Nero verließ den Truck und marschierte auf ihn zu.

„Taxijunge!“

Big Mac drehte sich um und musterte ihn.

„Wie hast du mich gerade genannt?“

„Du hast mich gehört“, bellte Nero. „Du weißt nicht, mit wem du dich da anlegst.“

Der riesige Mann beobachtete, wie wir uns ihm näherten und sah amüsiert aus.

„Ach ja? Mit wem denn?“

Zehn Fuß von ihm entfernt riss sich Nero das Oberteil vom Leib und spannte seine Brust an. Es sah so aus, als wollte er sich verwandeln, aber nichts geschah.

Verwirrt hielt Nero inne. Er versuchte es erneut. Nichts.

„Titus, zeig ihm, mit wem er es zu tun hat“, sagte er sich an mich wendend.

Ich wollte es nicht tun, aber ich musste. Ich zog mein Oberteil aus, spannte meine Muskeln an und versuchte, mich zu verwandeln. Nichts geschah. Was passierte gerade?

Als Big Mac lachte, drehte ich mich zu ihm um.

„Was denn? Könnt ihr euch nicht verwandeln?“

Sowohl Nero als auch ich sahen ihn fassungslos an.

„Denkst du, du bist der einzige Wandler in der Liga?“

„Machst du das hier gerade?“, fragte Nero Big Mac.

„Du weißt wirklich nichts, oder, Kleiner?“

„Die Übungseinrichtung steht auf magischem Boden. Alle Footballstadien tun das. Die Machthaber können doch nicht all ihre Goldjungen von dreckigen Gestaltwandlern im nationalen Fernsehen abschlachten lassen, oder?“

Big Mac lief gelassen an Nero vorbei. Nero ergriff ihn.

„Ich muss mich nicht verwandeln, um dich windelweich zu prügeln“, drohte Nero.

Mac schob seine Hand weg.

„Jederzeit. Überall“, sagte er mit feurigen Augen.

„Lass mich dich auf nicht magischem Boden erwischen und wir werden das ganz schnell klären.“

„Ach ja?“, fragte Mac amüsiert. Er ging zu seinem schicken Sportwagen. „Pass besser auf, dass du nicht mehr abbeißt, als du kauen kannst.“

„Komm doch her!“, provozierte Nero und hielt seine Arme zum Kampf einladend auf.

Big Mac stieg in sein Auto und ließ es an. „Das musst du mir nicht zweimal sagen“, sagte er und fuhr los.

Nero und ich sahen zu, wie er wegfuhr. Meine Haut juckte auf eine Weise wie seit Jahren schon nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, als würde ich gleich explodieren. Ich erinnerte mich an dieses Gefühl. So fühlte sich meine Wut an, bevor ich mich verwandeln und meinen Wolf sie ausleben lassen konnte. Mein Gesicht fühlte sich an, als stünde es in Flammen.

„Was zum Teufel ist magischer Boden?“, fragte mich Nero.

„Keine Ahnung.  Ein Ort, an dem wir uns nicht verwandeln können?“, tat ich das Offensichtliche kund.

„Verdammt!“, sagte Nero, zog sein Oberteil wieder an und ging zu seinem Truck.

Ich folgte ihm und setzte mich auf den Beifahrersitz. Auch wenn ich den Truck tagsüber hatte, mochte er es nicht, wenn jemand anderen ihn fuhr. Es war derselbe, den er seit der Highschool fuhr. Er hatte sentimentalen Wert.

„Worum ging es hier überhaupt?“, fragte ich, als wir in die Dunkelheit hineinfuhren.

„Er ist nur ein Arschloch aus dem Reserveteam. Er ist eifersüchtig, dass er keinen Platz im Team bekommen kann.“

„Reserveteam?“

„Ja, das Team stellt Leute ein, mit denen wir trainieren können. Das soll eigentlich für Nachwuchsspieler sein, aber er steckt dort seit 6 Jahren fest. Er denkt, er kann das an mir auslassen, weil ich ein Anfänger bin.“

„Denkst du, er ist ein Gestaltwandler?“

„Er wusste über uns Bescheid. Vielleicht.“

„Ist dir aufgefallen, wie er gerochen hat?“

„Du meinst wie Scheiße auf einem sengend heißen Highway.“

„So in etwa.“

„Ja, das ist mir aufgefallen.“

„Hast du schon mal so etwas gerochen?“

„Es gibt hier viele Dinge, die ich noch nie zuvor gerochen habe. Ich zieh doch nicht den Schwanz ein, weil irgendein Arschloch komisch riecht.“

Wir verfielen in Schweigen, als wir die einsame dunkle Straße zu Neros Haus entlangfuhren. Er wollte nicht in der Stadt sein. Er sagte, sie sei ihm zu hektisch. Wir kamen aus einer Kleinstadt, ich konnte es also nachvollziehen. Mitten im Nirgendwo zu leben erlaubte es ihm außerdem, sich zu verwandeln und zu laufen, wann immer er wollte. Wir waren fast da, als …

„Was zum Teufel war das?“, bellte Nero, nachdem der Truck geschaukelt hatte.

Mein Herz hämmerte gegen die Innenseite meiner Brust. Etwas hatte uns getroffen. Ich schaute durch die hintere Windschutzscheibe. Da war nichts als Dunkelheit. Als der Truck wieder ruckte, merkten wir, dass es von oben kam.

„Scheiße!“, schrie Nero, bevor er einen Schlenker machte.

Was auch immer uns gepackt hatte, wurde davon nicht abgeschüttelt und der Motor des Trucks heulte auf, als wir den Kontakt zum Boden verloren. Als sich das Dach der Fahrkabine wie eine Dose öffnete, knallten unsere Räder zurück auf den Boden. Wir wurden angegriffen. Aber von wem?

Wir verloren die Kontrolle, als die Reifen wieder auf der Fahrbahn landeten, und der Truck schoss seitwärts und raste auf einen Baum zu. Nero konnte nicht anhalten. Er riss das Steuer herum und der Truck kam ins Schleudern. Wir sahen, wie der Baumstamm immer näher kam, doch hielten mit einem Ruck an, der uns beinahe durch die Windschutzscheibe katapultierte.

Zutiefst erschüttert sahen wir nach oben. Über uns war der Himmel. Was auch immer es war, es hatte den Truck in Stücke gerissen. Alles in mir sagte mir ich solle mich verwandeln und weglaufen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich bekam meine Antwort, als massive Flügel von 20 Fuß Länge aus dem Nichts herabkamen und ihre riesigen Krallen auf der Suche nach uns in das Fahrabteil schoben.

„Lauf!“, schrie Nero und drückte seine Tür auf.

Ich folgte ihm und riss mein Hemd herunter. Vorwärts springend spürte ich, wie meine Knochen brachen und sich neu zusammensetzten. Mein Wolf war frei. Die Welt sah anders aus. Ich fand mein Rudelgefährten und folgte ihm, wir sprinteten durch die Bäume und rannten um unser Leben.

Ich nahm  mir einen Moment, um zurückzublicken und sah es. Ich hatte Cage über sie reden hören, aber ihm kaum geglaubt. Es war ein Drache. Ein schuppiges, langhalsiges Monster mit feurigen Augen. Es legte die Distanz wie ein Jet zurück und jagte auf uns hernieder. Es packt Neros Wolf mit seinen Krallen und schleuderte ihn nach vorn.

Nero traf mit einem Krachen auf den Boden auf. Als ich zu ihm lief, stand Nero nicht auf. Er war nicht tot, aber er lag benommen da. Ich musste ihn beschützen. Ich musste tun, was ich konnte, um ihn abzuschirmen.

Zu ihm eilend drehte ich mich um und postierte mich zwischen Nero und dem Monster. Mitten in der Luft schwebend, 30 Fuß vor mir, kämpfte ich gegen die Druckwelle von jedem seiner Flügelschläge. Er hatte mich. Er hatte uns beide. Und als er brüllte und Feuer in die Luft spie, erkannte ich, wie ich sterben würde.

Ich verwandelte mich wieder in einen Menschen, um ihn anzuflehen.

„Halt! Ich flehe dich an. Tu uns nicht weh!“

Als das Monster das hörte, schaute es mich an. Es verstand mich. Es ließ sich zu Boden gleiten und bedachte mich mit dem selbstgefälligsten Blick, den sein schuppiges Kinn zuließ. Es faltete seine Flügel auf dem Rücken zusammen und verwandelte sich zurück. Ich erkannte die Person.

„Du!“, sagte ich und sah einen nackten Big Mac an.

„Was zum Teufel, Mann?“, sagte ich, als er sich mir grinsend näherte.

„Dein Freund ist ja gar nicht mehr aufmüpfig, hm?“, meinte Mac und bot mir seine Hand an, um mir aufzuhelfen.

„Ich denke, du hast ihn verletzt“, sagte ich, während wir beide auf Neros Wolfform hinunterblickten.

„Nee. Ich kenne eure Art. Das Einzige, was hier verletzt wurde, ist sein Stolz. Jetzt hab dich nicht so, Neuling“, forderte Mac.

Zu meiner Überraschung reagierte Nero. Er verwandelte sich zurück in einen Menschen und lag nur einen Moment da, bevor er sich aufsetzte.

„Siehst du? Und jetzt zu dir, reiß noch mal dein Maul auf und ich zerfleische dir deinen mickrigen Arsch. Das gilt für euch beide“, drohte er, ehe er sich wieder verwandelte, seine enormen Flügel ausbreitete und in die Nacht verschwand.

Ich sah zu, wie er wegflog. Ich war immer noch schockiert. Nichts, was mir zuvor zu Ohren gekommen war, wurde dem gerecht, was ich gerade gesehen hatte. Es war furchterregend und gleichzeitig ehrfurchteinflößend.

„Nero, geht es dir gut?“, fragte ich den erschütterten Mann, der vor mir auf dem Boden lag.

„Du meinst abgesehen davon, dass mir gewaltig in den Hintern getreten wurde?“

Ich schmunzelte. „Ja. Abgesehen davon.“

Nero schnaufte lachend und schaute weg. Ich setzte mich neben ihn.

„Ich dachte, ich würde sterben“, gab ich zu. „Das wären wir beinahe auch.“

Nero antwortete nicht.

„Ich kann gar nicht glauben, was ich alles noch nicht gemacht habe. Ich wäre gestorben, ohne Lou gesagt zu haben, wie ich empfinde.“

Neros Kopf schoss in meine Richtung.

„Na schön, ich gebe es zu. Ich habe Gefühle für Lou. Zufrieden?“

„Nicht, wenn du nichts in die Richtung unternimmst.“

„Ich muss nach Hause gehen“, sagte ich ihm, als mich die Einsicht traf. „Ich muss mich mit Lou treffen.“

 

 

Kapitel 1

Lou

 

Welcher Idiot lädt einen Kerl bei deren dritten Date dazu ein, seine Eltern kennenzulernen?  Es ist, als würde jemand über den Zaun des Gorillakäfigs im Zoo springen … und dann den Gorilla mitnehmen, um ihn für ihr drittes Date seinen Eltern vorzustellen. Das ist verrücktes Gewäsch, das nur ein Irrer von sich geben würde.

Doch dann ist es passiert. Wir haben uns so viel geschrieben. Und er hat mir nach unserem zweiten Date gesagt, dass er sich in mich verliebt hat. Ja, richtig gehört, ich bin mit jemandem auf einem zweiten Date gewesen. Ich wette, das hat niemand kommen sehen.

Aber ich habe es gemacht, und er hat mich mit in die Berge genommen, um einen Meteorschauer anzusehen. Und er hatte eine Decke und einen Picknickkorb dabei. Ich weine beinahe, wenn ich nur daran denke. Niemand hat mich jemals so behandelt. Als meine Eltern also ankündigten, mich zu besuchen, wie hätte ich die Gelegenheit nicht ergreifen können, ihnen zu zeigen, dass sie im Unrecht sind?

‘Wir haben kein Problem mit deiner Entscheidung, deine Medikamente abzusetzen’, sagen sie. ‘Wir denken einfach nicht, dass jemand dich lieben wird, wenn du sie nicht mehr nimmst.’

Was? Haben meine Eltern das gerade gesagt? Sie denken, dass ihre Tochter niemals Liebe finden wird, wenn sie ist, wie sie ist?

Nun, lass mich dir etwas sagen, Mom, es gibt da einen Typen, der heiß und reich ist, für den jedes Mädchen töten würde. Und er hat sich in mich verliebt, deine Tochter, von der du denkst, dass sie niemals geliebt werden wird.

Wie ich immer sage: Wenn dir das Leben einen Zitrone gibt, dann sorge dafür, dass du sie dazu benutzt, um deinen Eltern zu beweisen, dass sie dir gegenüber im Unrecht waren. Seymore ist meine Zitrone. Sieht Sey aus, als würde er seine Schlüssel dem nächstgelegenen Mexikaner zuwerfen, damit dieser seine Yacht für ihn parkt? Ein bisschen. Doch meinen Eltern zufolge sehe ich wie ein Mädchen aus, das niemals Liebe finden wird. Das Aussehen kann also täuschen.

Das einzige Problem ist, dass ich Sey die Zeit und den Ort geschrieben habe, wo wir meine Eltern treffen würden, er aber noch keine Bestätigung zurückgeschickt hat. Der Typ schreibt mir jeden Tag ‘Guten Morgen, Schönheit’. Und an dem Morgen, als er meine Eltern kennenlernen soll, Funkstille?

Habe ich einen Fehler gemacht? War ich zu voreilig gewesen? Er war derjenige gewesen, der gesagt hatte, dass er sich in mich verliebt. Nicht ich. Wie weit ist das also davon entfernt, dass er meine Eltern kennenlernt?

Ich habe alles ruiniert, nicht wahr? Oh Gott, das habe ich! Ich habe den Kerl, der mir einen Ölzweig gereicht hat, geschnappt und ihn damit versohlt. Hat er nicht gesehen, wie ich die Blätter abgemacht habe? Er hätte mich stoppen können. Hatten wir überhaupt ein Safeword? Wir hatten kein Safeword. Verdammt, ich habe ihn verjagt!

Ich näherte mich einer ausgewachsenen Panikattacke, zog mein Handy heraus und rief die einzige Person an, die wusste, wie man mit mir umging, wenn ich in einen derartigen Zustand geriet.

„Titus?“, sagte ich zu meinem besten Wolfswandlerfreund.

„Lou, was ist los?“

Ich konnte durchs Telefon hören, wie er lächelte. Wusste er denn nicht, dass mein Leben zu Bruch ging? Wie konnte er zu einer solchen Zeit lächeln? Wer ist nun der Verrückte?

„Was los ist? Ich sag dir gleich, was los ist. Ich bin auf dem Weg, meine Eltern zu treffen, und der Freund, den ich einzig und allein dafür eingeladen habe, um es meinen Eltern mal so ordentlich zu zeigen, hat mir nicht gesagt, dass er kommen wird.“

„Moment, er ist dein fester Freund? Wann ist das denn bitte passiert?“

„Ich weiß es nicht. Irgendwann nach unserem zweiten Date. Er sagte mir, dass er mich liebt und …“

„Er sagte dir nach eurem zweiten Date, dass er dich liebt?“, schnitt er mir das Wort ab.

„Genau. Oder vielleicht war es eine Textnachricht. Und er sagte vielleicht, dass er sich in mich verliebt. Aber das ist doch nur einen Katzensprung entfernt vom großen L, nicht wahr?“

„Nun … irgendwie.“

„Nun, er sagte mir also, dass er mich liebt. Dann erzählte ich ihm, dass meine Eltern in der Stadt sein würden und er sie kennenlernen sollte. Er sagte zu, wir waren uns darüber einig. Doch als ich ihm heute Morgen die Details zukommen ließ, kam nichts zurück. Noch nicht einmal ein Mem. Und ich liebe die lustigen Meme, die er mir schickt. Das ist eines der besten Dinge in unserer Beziehung.“

„Wow! Das ist ja richtig viel.“

„Was ist richtig viel?“

„Du hast gerade so viele Sachen gesagt, die …“

„Oh mein Gott, ich bin da“, schnitt ich Titus das Wort ab. „Was soll ich machen? Was soll ich machen?“

„Beruhige dich zuerst einmal.“

„Ich erzähle dir, dass mein Leben in der Schwebe hängt, und du sagst mir, dass ich mich beruhigen soll? Dies ist der perfekte Zeitpunkt, um durchzudrehen.“

„Lou, hör mir zu. Atme durch. Atme.“

Ich blickte auf die Konditorei, in der mich meine Eltern treffen sollten und tat, was Titus sagte. Ich holte tief Luft. Es war schwierig, wenn man die riesigen Hände bedachte, die meinen Brustkorb zerquetschten, aber ich tat es. Es half. Ich hatte kaum noch das Gefühl, ohnmächtig zu werden.

„Tust du es?“

„Ruhe, ich versuche zu atmen“, sagte ich ihm und kämpfte darum, noch einen Atemzug zu nehmen.

Nachdem mein Herz von einem Streifenhörnchen auf Speed zu einem Reh auf Koffein heruntergefahren war, sammelte ich mich.

„Bist du noch dran?“, fragte mich Titus.

„Ich bin hier.“

„Okay. Wo bist du?“

„Ich stehe vor meinem Untergang.“

„Ich meinte physisch. Wie ist die Adresse?“

„Ich stehe vorm Nutmeg.“

„In Ordnung. Soll ich dorthin kommen?“

„Jettest du nicht um die Welt oder so?“

„Ich bin nicht um die Welt gejettet. Ich habe Nero geholfen, sein neues Zuhause aufzubauen. Das weißt du. Du weißt genauso gut, dass es der Jet seines Teams war. Ich hätte mir nicht einmal die Erdnüsse auf diesem Ding leisten können. Nero hat mein Rückflugticket zahlen müssen.“

„Du kommst also zurück?“

„Wir stehen kurz vor der Landung. Ich könnte ein Taxi nehmen und in 15 Minuten da sein.“

„Oh, warte! Hätte ich dich nicht am Flughafen abholen sollen? Es tut mir so leid. Meine Eltern sagten mir, dass sie diesen Tag in der Stadt sein würden und meine Kopf hat einfach aufgehört zu funktionieren.“

„Ich verstehe. Alles klar. Keine Sorge. Ich rufe mir ein Taxi. Und wenn du mich dahaben willst, könnte ich innerhalb von Minuten da sein.“

Ich dachte darüber nach. Ich hatte meinen Eltern gesagt, dass es jemanden gab, den ich ihnen vorstellen wollte. Wie demütigend wäre es, alleine aufzutauchen? Es würde beweisen, dass alles, was sie jemals über mich gedacht haben, wahr war. Das konnte ich nicht ertragen. Allein der Gedanke daran brachte mich dazu, unter Tränen in die Knie zu gehen.

„Könntest du?“, fragte ich und liebte Titus mehr, als ich je für möglich gehalten hätte.

„Natürlich kann ich das. Die Stewardess sagt mir, dass ich mein Telefon ausschalten muss. Aber keine Sorge. Ich bin gleich da. Ich habe dich, Lou. Das weißt du.“

„Das tue ich. Danke“, sagte ich und beruhigte mich schließlich.

Jetzt würde alles in Ordnung kommen. Ich wusste nicht, was mit Sey los war, aber darüber brauchte ich mir jetzt keine Sorgen machen. Und sicher, ich hatte angedeutet, dass sie jemanden treffen würden, mit dem ich zusammen war, aber sie hatten Titus noch nicht getroffen. Ich hätte meinen können, dass ich wollte, dass sie meinen besten Freund treffen. Jetzt würde alles in Ordnung kommen.

Als ich wieder in die Konditorei schaute, dachte ich darüber nach, wer drinnen auf mich warten würde. Frank und Martha hatten mich seit dem Tag, an dem sie mich an der Universität abgesetzt hatten, nicht besucht. Sie gehörten nicht zu den fürsorglichen Eltern, die ihre Kinder anriefen, um zu sehen, wie es ihnen ging. Ich war ihr Accessoire.

Obwohl sie viel Geld hatten, wuchs ich so auf, als hätten wir Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen. Ich kann mich an kein einziges Geschenk von ihnen erinnern, das über 20 Dollar gekostet hat. Während sie sich jedes Jahr neue Autos kauften. Was auch immer sie in den Augen der schrecklichen Menschen um sie herum gut aussehen ließ, taten sie. Mir das Gefühl zu geben, geliebt oder umsorgt zu werden, gehörte nicht dazu.

Der einzige Grund, warum ich es mir leisten konnte, die East Tennessee University zu besuchen, war meine Großmutter. Sie bezahlte für alles, was ich hatte. Schon als ich ein Kind war, wenn ich neue Kleidung brauchte oder Taschengeld, ging ich zu ihr. Sie war alles für mich.

Ohne sie hätte ich meine Kindheit definitiv nicht überlebt. Sie war diejenige, die mir sagte, dass es in Ordnung war, so zu sein, wie ich war, und dass sie mich lieben würde, egal was passierte. Das war, bevor ich mich entschied, meine Medikamente nicht mehr zu nehmen. Oma Aggie war vielleicht sogar die Person gewesen, die es mir vorgeschlagen hatte..

Wie hatte sie wissen können, wie lebendig ich mich fühlen würde, wenn ich sie absetzte? Sie schien viele Dinge zu wissen, die andere nicht wussten. Es war, als hätte sie eine Verbindung zum Jenseits.

Doch sie nutzte dieses Wissen nicht so, wie meine Eltern es getan hätten. Mit einem solchen Wissen würde Martha jeden zu ihrem Sklaven machen, während Frank ein Superschurke werden würde. Frank war ruhig, aber wenn er dich anstarrte, konntest du die schrecklichen Dinge sehen, die er dachte.

Oma Aggie war meine einzige Zuflucht vor all dem. Ohne sie hätte ich nicht überlebt. Das Leben war zu hart und einsam. Ich könnte weinen, wenn ich daran dachte, wie oft sie mich in ihren Armen hielt und mir sagte, dass ich etwas durchstehen konnte. In den Zeiten, in denen ich ihr nicht glaubte, hielt sie mich so lange fest, bis ich es tat.

Oma Aggies Arme waren mein einziger sicherer Ort in ganz Tennessee. Ich denke jeden Tag an sie und rufe sie oft an. Ich schöpfe aus der Kraft, die sie mir gegeben hat, was auch der einzige Grund ist, warum ich gerade weiter in Richtung Konditorei gehen kann.

Ich hatte keinen Freund, den ich ihnen vorzeigen konnte, aber ich hatte Titus. Er würde bald hier sein und die Freundschaft, die wir haben, wird ihnen beweisen, dass ich etwas wert bin. Selbst wenn sie nicht so denken, jemand tut es. So wie es Oma Aggie immer getan hat.

Einen letzten tiefen Atemzug nehmend trat ich vor die Glastür und spähte durch sie hindurch. Die beiden saßen da, tadellos gekleidet, wie sie es immer waren. Martha trug den marineblauen Hosenanzug, der sie wie eine Matrose aussehen ließ, und ihre charakteristischen Perlen.

Frank trug ein grünes Polohemd und eine khakifarbene Hose. Er war die unsichtbarste Person im Raum. Ich war möglicherweise ihr Accessoire, doch Frank war Marthas. Und seine Aufgabe war es, sie in keiner Weise in den Schatten zu stellen. Er verdiente das Geld und öffnete alle Türen. Aber er durfte keine eigene Persönlichkeit haben. Das war für ihn immer in Ordnung.

Als ich eintrat, versteifte ich meinen Rücken und ging hinüber. Als ich mich dem Tisch näherte, drehten sie sich um.

„Mutter, Vater.“

Meine Mutter zuckte zusammen. „Weißt du, ich hasse es, wenn du uns so nennst.“

Das wusste ich. Deshalb sagte ich es.

„Entschuldige. Frank, Martha.“

Ich wusste auch, dass Martha ihren Namen gern zuerst hörte.

„Hätte es dich umgebracht, einmal in deinem Leben pünktlich zu sein?“, stöhnte meine Mutter.

„Ich weiß es nicht. Hätte es das?“

Martha wandte sich an Frank.

„Ich kann mich nicht mit ihr abgeben, wenn sie so ist. Ich kann das nicht. Nicht heute.“

„Louise, respektiere deine Mutter“, murmelte Frank.

„Er spricht ja“, sagte ich ernsthaft überrascht, dass er das tat.

„Verstehst du, was ich meine“, sagte meine Mutter zu ihm.

„Louise!“, sagte mein Vater mit erhobener Stimme.

„In Ordnung“, sagte ich und warf meine Hände ergeben in die Luft.

Er hatte nicht laut gesprochen. Aber jede Zurschaustellung von Gefühlen seinerseits war beunruhigend.

„Musst du das jedes Mal tun?“, fuhr meine Mutter fort.

„Was genau? Ich habe nur hallo gesagt. Du bist diejenige, die mich seit dem Moment meiner Ankunft kritisiert hat.“

Frank meldete sich erneut zu Wort. „Louise, wir warten hier seit dreißig Minuten.“

Er hatte recht. Ich war zu spät gekommen. Ich hatte Sey so viel Zeit wie möglich gegeben, um mir zu antworten.

Aber es war nicht so, dass sie mich nie hatten warten ließen. Zum Beispiel warte ich immer noch auf mein Geschenk zu meinem dreizehnten Geburtstag. Es musste hier irgendwo ein 0,99 $ Geschäft geben.

„Ihr habt euer Croissant nicht angerührt“, sagte ich und sah auf den Teller vor ihnen. „Wollt ihr das essen? Ich hatte kein Mittag.“

Martha schnaubte vor Ekel und schob es vor mich hin. Ich weiß, es war eine kleine Sache, aber das war das Erste, was sie mir seit Jahren gegeben hatten. Vielleicht liebten sie mich.

Ich zerriss es und Krümel fielen auf meinen Teller und den Tisch darum herum. Meine beiden Eltern beobachteten mich, als wäre Tierfütterung im Zoo.

„Und, wie geht es der Schule?“, fragte mein Vater.

Ich verschluckte mich fast. Keiner von ihnen hatte mich das jemals zuvor gefragt. Ich wusste nicht, was los war. Und so sehr ich auch mit etwas Höhnischem antworten wollte, wagte ich es nicht. Was, wenn die Besorgnis, die sie mir zeigten, echt war? Was, wenn sie sich trotz eines Lebens voller Beweises für das Gegenteil tatsächlich um mich sorgten? Ich konnte nicht riskieren, das zu ruinieren.

„Es ist okay“, sagte ich ehrlich. „Hm, die Kurse laufen gut. Ich habe eine wirklich coole Mitbewohnerin … Quin. Hm, ich habe einen Freund“, sagte ich plötzlich verzweifelt und wollte ihre Anerkennung.

„Ich verstehe“, sagte Frank die Augen senkend.

Hatte ich den Moment ruiniert, indem ich ihn daran erinnerte, dass ich nicht auf sie gehört hatte mit meinen Medikamenten und trotzdem überlebt hatte? Das hatte ich, nicht wahr? Hätte ich meinen Mund gehalten und einfach gesagt, dass alles in Ordnung sei, hätte er nicht weggeschaut. Das mache ich immer. Ich rede immer, wenn ich die Klappe halten sollte.

„Und hier ist er auch schon“, sagte ich, als ich sah, wie er die Tür öffnete.

Sey war gekommen. Er war hier! Ich hätte weinen können, als ich ihn erblickte. Und hinter ihm waren fünf seiner Football-Teamkollegen. Was ging gerade vor sich?

Sobald er mich sah, leuchteten seine Augen auf. Er warf die Tür auf und trat hinein.

„Lou!“, brüllte er von der anderen Seite des Raumes. Seine Teamkollegen stellten sich hinter ihm auf.

„Sey, was passiert hier?“

Sey schaute nach hinten zu den Jungs. Als er das tat, begannen sie zu singen.

 

„Wise men say, only fools rush in. But I can’t help falling in love with you.”

 

Als die Jungs mit dem fortfuhren, was die traurigste Wiedergabe eines meiner Lieblingssongs sein musste, durchquerte Sey den Raum in meine Richtung. Überwältigt sah ich meine Eltern an. Beide schauten nach unten und weg. Sie wollten kein Teil dessen sein, was vor sich ging, und sie versteckten es nicht.

Es war mir egal. Was auch immer geschah, war das Romantischste, was je jemand für mich getan hatte, und ich wollte nicht, dass sie es ruinierten.

„Lou, ich weiß, dass wir uns nicht sehr lange kennen. Aber wenn du die Person triffst, von der du weißt, dass du den Rest deines Lebens mit ihr verbringen willst, dann weißt du es einfach. Und wenn du das tust, was bringt es dann, zu warten?“

„Bitte was?“, sagte ich sowohl entsetzt als auch begeistert.

 

„Like a river flows, surely to the sea, darling, so it goes, some things are meant to be.”

 

„Lou, was ich sagen will, ist, dass wir uns gerade erst kennengelernt haben, aber ich kenne dich. Ich kenne dich mein ganzes Leben lang, weil du der Traum warst, für dessen Erfüllung ich jede Nacht gebetet habe. Also …“, sagte er und ging vor mir in die Knie und zog einen Ring aus seiner Tasche.

„Oh mein Gott!“, keuchte ich.

„Louise Armoury, willst du mich heiraten?“

Mein Kopf drehte sich. War das alles echt? Das musste es sein. Ich würde niemals so schreckliche Sänger in eine meiner Fantasien packen.

Konnte ich das tun? Sollte ich das tun? Wir hatten uns gerade erst kennengelernt. Aber wie er sagte, wenn du es weißt, weißt du es. Und ich hatte noch nie jemanden gehabt, der mich so behandelt hatte wie er. Noch nie.

„Ja“, sagte ich. „Ja, ich werde dich heiraten“, sagte ich ihm und Tränen rollten über meine Wange.

„Das wirst du?“, sagte er so glücklich wie ich.

„Das werde ich“, wiederholte ich und wusste, dass das die beste Entscheidung war, die ich je getroffen hatte.

Er nahm meine Hand und schob den Ring auf meinen Finger. Er war ein bisschen groß, aber das war okay. Das könnten wir regeln. Wir waren verliebt und Liebe konnte alles regeln.

Er stand wieder auf und küsste mich. Das war mein erster Kuss als verlobte Frau. Er war wunderbar. Ich war noch nie glücklicher in meinem Leben gewesen.

Mit Seys Armen um mich herum drehte ich mich zu meinen Eltern um. Sie hatten Sey immer noch nicht angesehen. Sie hatten ihre Augen nicht vom Boden wegbewegt. Konnten sie es nicht ertragen, falsch zu liegen? Sie hatten gesagt, dass mich niemand jemals so lieben würde, wie ich war, aber das war der Beweis, dass sie falsch lagen.

Ein Mann liebte mich so sehr, dass er mich nach zwei Dates gebeten hatte, ihn zu heiraten. Sagte das nicht alles, was es über mich zu sagen gab? Ich war liebenswert. Ich war jemandes Zeit wert.

„Nun? Wollt ihr nichts sagen?“, fragte ich und wollte unbedingt ihre Niederlage hören.

Da schaute meine Mutter zu mir auf. Ihre Augen richteten sich auf meine.

„Deine Großmutter Agatha ist gestorben. Ihre Beerdigung war gestern. Ihr Testament wird verlesen. Wir erwarten dich dort und versuche, nicht zu spät zu kommen“, sagte sie, bevor beide aufstanden und gingen.

Ich sah sie fassungslos an. Ich konnte weder sprechen noch mich bewegen. Ich musste sie falsch verstanden haben. Oder vielleicht war es ein Witz.

„Oma Aggie ist tot“, hörte ich jemanden sagen.

Ich war diejenige, die es gesagt hatte. Es sollte eine Frage an die beiden Menschen sein, die mich verließen und meine Verbindung zur Realität mit sich nahmen. Aber sie konnten mich nicht hören. Ich konnte mich selbst kaum hören. Und als sie das Geschäft verließen und vor dem Fenster davongingen, passierten sie ein anderes vertrautes Gesicht. Diese Person hielt einen Blumenstrauß.

„Titus“, flüsterte ich, bevor sich seine am Boden zerstörten Augen zu mir wandten und er am Fenster vorbei und aus meinem Blickfeld lief.

 

 

Kapitel 2

Titus

 

Das konnte nicht wahr sein, was ich da gesehen hatte, oder? Lou, das Mädchen, das mehr erste Dates gehabt hatte, als es Bäume in Tennessee gibt, hatte sich verlobt? Das konnte nicht stimmen. Aber ich hatte es gesehen. Ich hatte dagestanden und es mitangesehen.

Lou hatte mir gesagt, mit wem sie getextet hatte. Es war ein Austauschschüler, der in der Footballmannschaft war. Er war in diesem Semester angekommen, es war also, nachdem ich schon draußen war. Aber ich erkannte definitiv die Jungs, die hinter ihm gesungen haben. Sie waren meine Teamkollegen gewesen.

Ich musste meine Augen schließen, als ich meinen Truck erreichte, beruhigte mich und atmete tief durch. Mein Wolf zerfleischte mich von innen heraus und kämpfte darum, herauszukommen. Das konnte ich nicht zulassen. Wenn ich dem nachgäbe, würde er jeden hier in Stücke reißen.

Ich wusste aber, dass niemand daran Schuld trug. Ich war derjenige, der zu lange gewartet hatte. Ich hatte alles ignoriert, was Nero und Quin mir zum dem Thema gesagt hatten, dass ich ihr sagen sollte, wie ich empfand. Aber ich hatte endlich auf sie gehört. Heute sollte der Tag sein.

Ich hatte einen Umweg gemacht, um die Blumen zu holen. Wenn ich es nicht getan hätte, hätte ich dann dort sein können, um es aufzuhalten? Wenn ich ihr gesagt hätte, wie ich mich fühlte, hätte sie immer noch Ja zu diesem Kerl gesagt?

Mein Telefon klingelte und holte mich aus meiner wachsenden Wut auf mich selbst. Ich holte es heraus und sah Lous Namen. Ich konnte gerade nicht mit ihr reden. Da ich wusste, dass ich nicht vorgeben konnte, mich für sie zu freuen, schob ich es zurück in meine Tasche.

Während ich das Dutzend roten Rosen betrachtete, die mich ein halbes Vermögen gekostet hatten, warf ich sie auf den Boden. Ich war so ein Dummkopf gewesen. Ich konnte nicht hier sein. Ich musste weg. Ich war froh, dass ich bei mir zu Hause angehalten hatte, um meinen Truck zu holen, anstatt direkt vom Flughafen herzukommen. Ich stieg ein und fuhr weg.

Wenige Augenblicke später klingelte mein Telefon wieder. Als ich es während der Fahrt herauszog, sah ich wieder Lous Namen.

„Ich will nicht hören, dass du dich verlobt hast! Verstehst du das nicht?“, schrie ich das Telefon an, bevor ich es auf den Beifahrersitz warf.

Da ich wusste, dass ich für meine eigene Zurechnungsfähigkeit und jedermanns Sicherheit so viel Abstand wie möglich von dem bekommen musste, was gerade passiert war, kehrte ich nicht zu meinem Wohnheim zurück. Ich näherte mich der Autobahn, die nach Hause führte, und fuhr darauf. Genau in dem Augenblick klingelte das Telefon erneut. Ich wusste nicht, warum Lou es nicht begriff. Ich würde keinesfalls abnehmen.

Ja, ich hatte ihr gesagt, dass ich sie in der Konditorei treffen würde, aber nur, weil ihr Typ abgehauen war oder was auch immer. Aber er war aufgetaucht. Lou brauchte mich dort nicht. Warum hört sie dann nicht auf, mich anzurufen?

Nachdem sie zum vierten Mal angerufen hatte, schaltete ich meinen Klingelton aus und das Radio an. Mir war egal, was gespielt wurde, solange es mich nur von dem ablenkte, was ich gerade gesehen hatte.

Ich konnte Lou nichts vorwerfen. Sie war immer offen damit gewesen, wer sie war. Sie wollte Liebe finden und sie würde mit jedem Kerl Land ausgehen, um sie zu finden. Ich war derjenige, der zu verängstigt war, um zuzugeben, was ich für sie empfand.

Ich war in sie verliebt, seit ich ihr teuflisches Lächeln und ihre großen, bezaubernden braunen Augen gesehen habe. Aber was tat ich, anstatt es ihr zu sagen? Ich wurde ihr Kumpel, ihr bester Freund.

Weißt du was? Ich bin es leid, jedermanns Freund zu sein. Ich will begehrt werden. Ich wollte, dass Lou mich will.

Aber jetzt war es zu spät. Sie hatte ihren Mann gefunden und sich verlobt. Sie hatte nur erwähnt, zwei Dates mit ihm gehabt zu haben. Ich dachte, ich hätte mehr Zeit. Aber es war meine eigene Schuld.

Ich konnte auf meiner anderthalbstündigen Fahrt nach Hause nicht aufhören, darüber nachzudenken. Ich war froh, als ich spürte, wie der Schutzwall der Stadt mich schluckte. Er nahm meinem Wolf den verbesserten Geruchssinn, aber das war der inoffizielle Ortseingang unserer kleinen Hinterwäldlerstadt. Die Fahrt zu meiner Mutter würde nicht lange dauern, nachdem ich ihn passiert hatte.

Als ich zu der geteilten Blockhütte kam, in der ich aufgewachsen war, sah ich alles ganz genau an. Ich war zuhause. Und obwohl es nicht so schick wie das Haus war, das Lous Mitbewohnerin gekauft hatte, um bei ihrem  Freund zu sein, war es immer noch schön. Dieses Haus war auf einem Hügel, der ein baumbedecktes Tal übersah. In einer Stadt wie unserer konnte man nicht viel mehr verlangen.

Außerdem war Lous Mitbewohnerin Quin in gottlosem Reichtum geboren worden. Meine Mutter hatte nur die Rente, die die Luftwaffe ihr gewährte, nachdem mein Vater während eines Kampfeinsatzes abgeschossen worden war. Sie war ein Mensch, der einen Wolfsgestaltwandler allein großgezogen hatte. Ich war nicht der Typ, der seine Mutter als seine beste Freundin betrachtete. Aber sie war mein Fels. Ganz gleich, was mir widerfuhr, ich wusste, dass ich immer für mich da war.

Als ich aus meinem Truck stieg, ging ich zur Haustür und wusste, dass ich mich nicht mit allem um mich herum befassen müsste, sobald ich hineinging. Es ist nicht so, dass ich Angst vor Veränderung habe. Ich bin derjenige, der sich dafür eingesetzt hat, den Schutzwall zu entfernen. Ich war schon immer ein großer Fan von Veränderung gewesen. Ich denke, Veränderung ist gut.

Aber da Lou nun verlobt ist, Nero in einen anderen Bundesstaat umzieht und ich in weniger als einer Woche einen neuen Mitbewohner bekomme, könnte ich ein wenig Stabilität gebrauchen. Das war meine Mutter. Etikette, traditionelle Werte und der Status Quo waren die Dinge, denen sie folgte.

Als ich die unverschlossene Tür öffnete, sah ich mich nach meiner Mutter um. Als ich sie fand, erstarrte ich. Ich hätte wegschauen sollen. Aber wenn du deine Mutter und ihren Freund zum ersten Mal nackt von der Couch ins Schlafzimmer rennen siehst, dauert es einen Moment, das zu verarbeiten.

„Oh mein Gott!“, schrie ich, als das schreckliche Bild sich in mein Gehirn brannte.

War das der Grund, warum Menschen in der griechischen Mythologie ihre Augen ausbrannten? Ich glaube, ich verstand es endlich.

„Was macht ihr beiden da?“, schrie ich entsetzt.

Auch wenn es schon zu spät war und ich nie wieder in der Lage sein würde, meine Augen zu schließen, drehte ich mich in die andere Richtung. Ich dachte darüber nach, zu gehen, aber was nützte das? Es war eh schon zu spät. Außerdem, wo sonst könnte ich hingehen?

„Was machst du denn hier? Solltest du nicht in der Schule sein?“, sagte meine Mutter und klang so entsetzt, wie ich mich fühlte.

„Ich dachte, ich komme dich besuchen. Vielleicht sollte ich gehen.“

Meine Mutter verließ ihr Schlafzimmer.

„Du musst nicht gehen. Aber dies könnte ein guter Zeitpunkt sein, um dir etwas zu sagen.“

Ich drehte mich langsam um und sah meine Mutter, wie sie den Gürtel ihres Bademantels zuknotete. Nach dem, was geschehen war, war selbst dies zu viel.

„Ja, was denn?“, fragte ich zögerlich.

„Mike, kannst du bitte rauskommen?“

Oh nein!

Mike kam in Jeans, Hosenträgern und ohne Hemd heraus. Der Mann hatte eine beginnende Glatze, einen blonden Bart und den größten Bierbauch, den ich je gesehen hatte. Er war der Besitzer des lokalen Diners und als ich aufwuchs, hatte ich immer das Flirten zwischen den beiden bemerkt. Ich war nicht blind. Aber das hier?

„Was ist los?“, fragte ich nervös.

„Schatz, Mike und ich werden zusammenziehen“, sagte sie fest.

„Mike zieht ein?“

„Nein. Ich werde bei ihm einziehen.“

„Ich habe gerade ein Haus am See gekauft. Es ist in der Nähe von Tanner Cove“, erklärte Mike.

„Es ist wunderschön, Titus. Und ich werde dorthin ziehen.“

„Ich weiß, wie deine Mutter schöne Dinge mag. Nur das Beste für sie.“

Ich wandte mich an meine Mutter.

„Und was wirst du mit diesem Ort hier machen?“, fragte ich sie, und wunderte mich, wie ich in all das hineinpasste.

„Ich habe mich noch nicht entschieden. Vielleicht verkaufe ich ihn.“

„Ich verstehe“, sagte ich und fühlte, wie sich meine Brust zusammenzog. Ich zuckte zusammen und ging dann zur Couch, um mich hinzusetzen.

„Alles in Ordnung, mein Sohn?“, fragte meine Mutter.

„Es scheint sich einfach alles zu ändern. Nero spielt Profifootball. Lou hat sich verlobt. Du ziehst bei Mike ein. Jeder bekommt, was er will, außer mir.“

„Mike, kannst du uns einen Moment geben“, sagte meine Mutter und kam auf mich zu.

„Ehrlich gesagt muss ich zurück ins Diner, um mich auf den Abendansturm vorzubereiten.“

Mike packte sein Hemd und seine Schuhe. „Wir sehen uns später?“

Meine Mutter lächelte und sah zu, wie er ging. Als er weg war, kam sie zu mir auf die Couch. Sie nahm meine Hand in ihre.

„Die Dinge ändern sich, Titus.“

„Das weiß ich. Ich bin derjenige, der versucht hat, dich davon zu überzeugen, erinnerst du dich? Es ist nur so, dass sich jeder ohne mich zu verändern scheint. Was mache ich falsch? Warum bin ich derjenige, der alleine zurückbleibt?“

„Du bist nicht allein, mein Junge.“

„Bin ich nicht? Du hast Mike. Nero hat Kendall. Lou hat diesen Kerl, wie auch immer er heißt. Und wen habe ich? Sag’s mir, Mom. Wen habe ich?“

Die Augen meiner Mutter sanken nieder. Sie sah so aus, als wollte sie mir etwas sagen, aber konnte sich aber nicht dazu durchringen, es zu tun.

„Was ist es?“

Sie sammelte sich. „Es ist nichts.“

„Nein. Hör auf, Mom. Du tust das immer. Wenn du mir etwas zu sagen hast, sag es einfach. Geht es um diesen Ort? Hast du ihn schon verkauft? Denkst du auch darüber nach, aus der Stadt zu ziehen?“

„Titus, du hast einen Bruder.“

Ich erstarrte. Von all den Dingen, die sie hätte sagen können, war das das Letzte, was ich erwartet hatte zu hören.

„Wovon redest du?“

„Ich kann nicht mehr als das sagen. Aber es hat mich schon eine ganze Weile belastet, und …“

„Was? Denkst du, du kannst mir sagen, dass ich einen Bruder habe, von dem ich nichts wusste, und es dann dabei belassen?“

„Mehr kann ich nicht sagen“, sagte sie resigniert.

„Warum nicht? Wer ist er? Ist er in der Stadt? Hattest du vor mir ein Kind?“

„Nein, nichts dergleichen.“ Meine Mutter atmete tief ein. „Ihr zwei habt denselben Vater.“

Ich sah meine Mutter an, als das Gewicht dessen, was sie sagte, meinen Körper verdrehte. „Mama, du musst mir sagen, wer es ist. Lebt er hier in der Nähe?“

„Ich habe versprochen, dass ich nichts sagen würde.“

„Wem?  Meinem Vater?“

„Nein“, sagte sie unbehaglich.

„Mom, du kannst nicht einfach so etwas in den Raum stellen und erwarten, dass ich es ignoriere. Erzähl mir wenigstens etwas über ihn. Ist er älter als ich? Jünger?“

„Er ist jünger“, räumte sie ein.

„Also hatte mein Vater ihn, bevor er in den Irak entsandt wurde?“

Meine Mutter sah nach unten.

„Komm schon, Mama. Sag mir wenigstens das? Lebt er in der Stadt?“

Ihre Augen schossen nach oben und blickten in meine.

„Das tut er“, erkannte ich. „Kenne ich ihn?”

„Titus, hör auf damit. Du versuchst, mich dazu zu bringen, Dinge zu sagen, die ich nicht sagen kann.“

„Du kannst tun, was du willst, Mama. Das hast du schon immer getan. Ich meine, wie konntest du mir das mein ganzes Leben lang vorenthalten?“

Ihre Entschlossenheit kehrte zurück. „Dieses Gespräch ist vorbei.“

Sie stand auf und ging in ihr Zimmer.

„Ach, weil du mit Reden fertig bist, denkst du, es ist vorbei.“

„Lass es einfach ruhen, Titus!“

„Es ruhen lassen? Du hast so eine Bombe platzen lassen und erwartest, dass ich das einfach ruhen lassen?“

Sie ging in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Ich starrte sie fassungslos an. Was zur Hölle war gerade passiert? Ich war so einsam aufgewachsen, dass ich es kaum ertragen konnte, wünschte, ich hätte einen Bruder gehabt, und hatte die ganze Zeit über doch einen? Das konnte ich nicht glauben.

Es machte mich fertig, dass ich Lou nicht anrufen und ihr davon erzählen konnte. Aber sie feierte wahrscheinlich gerade ihre Verlobung. Warum hatte ich so lange damit gewartet, ihr zu sagen, was ich für sie empfand? Ich hatte das Gefühl, dass meine ganze Welt aus den Fugen geriet.

Da ich nicht mehr hier sein wollte, machte ich mich auf den Weg zu meinem Truck und fuhr weg. Da es eine kleine Stadt war, hatte ich nicht viele Orte, an die ich gehen konnte. Ich konnte mich verwandeln und zu einem der Wasserfälle rennen, aber ich hatte keine Lust, alleine zu sein.

Als ich mich Mikes Diner näherte, sah ich seinen Lastwagen hinten geparkt. Ich dachte an ihn und meine Mutter. Wie lange ging das schon zwischen den beiden?

Es war nicht so, dass Mike so ein schlechter Kerl war. Als Nero seine Arschlochphase durchgemacht hatte, war Mike der Einzige, der ihm einen Job gab. In Anbetracht der Dating-Auswahl meiner Mutter war er ein guter Fang. Ich denke, mein Problem war alles, was mit ihrer Beziehung einherging, wie der mögliche Verlust meines Elternhauses.

Wie du sehen kannst, verstehe ich das. Ich bin kein Kind mehr. Und dank Quins Freund Cage, der dabei war, der neue Alpha der Stadt zu werden, bin ich ein Wolf mit einem wachsenden Rudel. Ich konnte mich allein zurechtfinden.

Aber ich hatte das Mädchen, das ich liebte, verloren. Ich verlor das einzige Zuhause, das ich je hatte. Und irgendwo da draußen gab es einen Bruder, den ich vielleicht nie treffen würde. Was sollte ich jetzt bloß machen?

Als ich weiter die Main Street hinunterfuhr, näherte ich mich als nächstem Dr. Sonyas Frühstückspension. Dr. Sonya war die menschliche Mutter meines neuen Mitbewohners. Da Nero zum Draft eingezogen wurde und Cali als Neuling an die East Tennessee University kam, machte es Sinn, dass wir zusammenwohnten.

Wir beide waren auch die Einzigen an der East Tennessee, die von hier waren, einer Kleinstadt, in der übernatürliche Wesen offen mit Menschen zusammenlebten. Wenn man daran dachte, welchen Unterschied es machte, dass wir unsere Fähigkeiten versteckten, mussten wir zusammenhalten. Außerdem war es für ihn noch ein wenig neu, sich verwandeln zu können und Mitglied unseres Rudels zu sein.

Ich erinnerte mich an Dr. Sonyas neues Projekt, fuhr in ihre Auffahrt und parkte neben einem Truck, den ich nicht kannte. Ich folgte dem Weg zur Rückseite des schönen zweistöckigen Craftsman-Hauses und umrundete es hinauf auf die große steinerne Veranda und fand drei kleine Zweiertische vor.

„Titus! Was führt dich hierher?“, meinte Dr. Sonya und kam aus der Hintertür des Hauses heraus, um mich zu begrüßen.

„Cali sagte mir, dass du das machst, und da ich in der Stadt war, beschloss ich, es mir anzusehen. Wie läuft es?“

„Erstaunlich gut. Marcus ist mehr als begeistert“, sagte sie und ließ ein wenig ihren jamaikanischen Akzent durchscheinen. „Er ist jeden Morgen hier und backt. Es ist ein echtes Abenteuer geworden.“

„Das ist großartig! Wenn wir jetzt noch den Rest der Stadt an Bord holen können, könnten wir diese Stadt auf die Karte setzen lassen.“

„Buchstäblich“, berührte Dr. Sonya lachend meinen Arm.

Sie teilte meine Frustration über den Wunsch der Stadt, sich zu verstecken. Ja, von einem Drachenwandler angegriffen zu werden hatte mir geholfen, zu verstehen, warum unser Fae-Anführer die Schutzbarriere errichtet hatte. Aber die Welt ist gefährlich, ganz egal ob man übernatürliche Fähigkeiten hat oder nicht. Das ist kein Grund, sich vom Leben abzukapseln.

Wenn es eine Sache gab, die ich von meinem Aufenthalt an der East Tennessee gelernt hatte, dann dass die Welt da draußen jede Menge zu bieten hatte. Und diese Stadt hatte auch der Welt etwas zu bieten. Wir könnten das beliebteste Ziel in Tennessee für Ökotourismus sein. Wir hatten mehr schöne Wasserfälle pro Quadratmeile als jeder andere Teil des Bundesstaates. Es würde allen nützen.

Aber es gab Leute wie meine Mutter und den Fae-Anführer Dr. Tom, die es vorzogen, die Dinge so zu belassen, wie sie waren. Was sie nicht erkannten, war, dass meine Generation einen Grund zum Bleiben brauchte.

Warum sollten Wolfswandler ihr Leben ohne ihren Geruchssinn verbringen? Warum sollten wir damit zufrieden sein, nur die Hälfte dessen zu sein, was wir sein könnten?

Und das ist noch nicht alles. Wir brauchen Jobs, die mehr zu bieten haben, als im örtlichen Diner zu arbeiten oder Regale im Lebensmittelladen aufzufüllen. Egal ob Gestaltwandler, Fae oder Mensch, wir brauchen Gelegenheiten, um ein echtes Leben zu führen. Wenn wir das hier nicht finden können, werden wir woanders danach suchen. Und wie lange würde die Stadt noch überleben, wenn ihre einzigen Einwohner über 50 Jahre alt wären?

Dr. Sonya jedoch verstand es. Es half, dass sie auf einer Insel geboren worden war, die vom Tourismus lebte. Das war wahrscheinlich der Grund, warum sie ihre Pension eröffnet hatte. Es war der einzige Ort in der Stadt, an dem ein Fremder übernachten konnte. Ohne sie wäre die Stadt ein Gemischtwarenladen, ein Diner und eine bröckelnde Highschool.

„Du scheinst nicht dein übliches heiteres Selbst zu sein. Stimmt etwas nicht?“, fragte Dr. Sonya.

Ich hatte nicht erwartet, dass sie es bemerken würde. Ich dachte, ich hätte es ziemlich gut verborgen. Aber konnte ich ihr sagen, dass das Mädchen, in das ich verliebt war, sich verlobt hatte, bevor ich eine Chance hatte, ihr zu sagen, wie ich empfand? Konnte ich ihr sagen, dass ich Mama und Mike überrascht habe und sie jetzt zusammenziehen, so dass ich nirgendwo leben kann?

„Mir wurde soeben erzählt, dass ich einen Bruder habe.“

Dr. Sonya sah mich mit genauso viel Überraschung an, wie ich verspürte, als ich es erfuhr.

„Wirklich?“

„Genau. Wie sich herausgestellt hat, hatte ich die meiste Zeit meines Lebens über einen und meine Mutter hat sich bis jetzt nie die Mühe gemacht hat, ihn zu erwähnen.“

„Hat sie dir irgendetwas über ihn erzählt?“

Ich schüttelte meinen Kopf. „Sie sagte, er sei jünger als ich und dass mein Vater ihn hatte, bevor er in den Irak entsandt wurde.“

„Dein Vater wurde in den Irak entsandt?“, fragte sie verwirrt.

„Das hast du nicht gewusst?“

„Ich habe nichts dazu gesagt.“

„Ja, mein Vater war bei der Luftwaffe. Ich hatte ehrlich gesagt Angst zu fragen, ob er und meine Mutter verheiratet waren. Sie redet ungern über ihn. Aber nachdem sie mir gesagt hat, dass ich einen Bruder habe, beginne ich zu verstehen, warum. Weißt du etwas darüber?“

„Das sind alles neue Informationen für mich“, gab sie zu.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich schätze also mal, dass ich mich das gerade umtreibt.“

„Das kann ich mir vorstellen. Übrigens, wolltest du etwas oder bist du nur gekommen, um dir den Ort anzusehen?“

Ich dachte an das Gebäck zurück, das ich auf dem Tisch vor Lou gesehen hatte.

„Hast du Croissants?“

„Marcus hat diese köstlichen Croissants mit Schokoladendekoration gemacht“, sagte sie, während ihre Augen vor Aufregung groß wurden.

„Ich nehme einen davon. Und vielleicht einen Kaffee.“

„Kommt gleich. Setz dich. Entspanne dich. Genieße die Aussicht“, bedeutete sie auf den Ausblick.

„Danke“, sagte ich, wählte einen Sitzplatz und nahm Platz.

Der Ausblick von Dr. Sonyas hinterer Veranda musste eine der besten der Stadt sein. Baumbewachsene Hügel zogen sich hin in die Ferne. Der weiteste Blick war eine Nebelwolke von dem größten Wasserfall in hundert Meilen.

Ich war sowohl in der Aussicht als auch in Gedanken verloren, als ich eine Stimme hörte, die ich eine Weile nicht mehr gehört hatte.

„Titus?“

Ich drehte mich um und sah Claude, der einzige Typ aus meiner Abschlussklasse, der unmittelbar nach der Highschool aufs College gegangen war.

„Claude! Schön, dich zu sehen. Was machst du hier?“

„Hier in der Stadt oder hier bei Dr. Sonyas Konditorei?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Beides. Setz dich doch.“

Claude ging zu dem Platz mir gegenüber. Erinnerungen an Claude durchfluteten meinen Kopf. Ich war immer ein wenig eifersüchtig auf ihn gewesen. Er war nicht nur ein Wolfswandler, der einer der besten Footballspieler in unserem Highschoolteam gewesen war. Er sah auch immer so wahnsinnig gut aus.

Der Mann hatte perfekte Gesichtszüge und den erstaunlichsten braunen Teint, den ich mir vorstellen konnte. Ich wusste nicht, wie er sich fühlte, das einzige schwarze Kind in unserer Highschool zu sein. Es könnte der Grund gewesen sein, warum er für sich blieb. Aber ich hatte mir immer gewünscht, wir könnten Freunde sein.

„Nun, ich habe früh meinen Abschluss gemacht. Deshalb bin ich in der Stadt. Und ich bin hier bei Dr. Sonya, weil Marcus sagte, dass er heute seine Schokoladencroissants macht“, sagte er mit dem Hauch eines Lächelns.

„Ich habe gehört, dass sie gut sind.“

„Das sind sie.“

Ich betrachtete Claude einen Moment lang.

„Weißt du, von allen, die diese Stadt verlassen haben, warst du der Letzte, von dem ich dachte, dass er zurückkommen würde.“

„Kann ich erwidern“, sagte er und schaute nachdenklich nach unten. „Aber meine Mutter ist hier. Und sie hat ein wenig Hilfe gebraucht, also bin ich hier.“

„Und was machst du so? Arbeitest du?“

„Hast du einen Computer, der repariert werden muss?“, fragte er nach vorne gebeugt mit einem Lächeln.

„Du reparierst Computer? Hier?“

„Ja, nun, zugegeben, die Leute rennen mir nicht gerade die Tür ein. Aber wenn es etwas gibt, gibt es sonst niemanden. Und ich habe langsam einige der Unternehmen davon überzeugt, auf elektronisches Datenmanagement umzusteigen, so dass man nie genau weiß.“

Ich lachte. „Du meinst, diese Stadt dazu zu bringen, ins 21. Jahrhundert zu kommen? Viel Glück damit.“

„Danke. Aber was ist mit dir? Ich dachte, du wärst an der East Tennessee?“

„Das bin ich. Ich bin nur für den Tag zu Besuch hier.“

Claude schüttelte anerkennend den Kopf. „Weißt du, ich wollte dich erreichen.“

„Ach ja? Warum?“

„Du führst Touristen zu den Wasserfällen, nicht wahr?“

„Ich meine, ja, das tue ich. Warum?“

„Hast du jemals darüber nachgedacht, dass es mit der richtigen Unterstützung ein großartiges Geschäft werden könnte? Vielleicht könnten es mehr als nur Touren sein. Vielleicht könnte es etwas Camping oder River Rafting beinhalten. Du könntest es als verschiedene Pakete verkaufen. Ich habe etwas herumgerechnet. Es kann eine Weile dauern, aber so etwas könnte ziemlich profitabel sein.“

Ich sah ihn überrascht an. „Ja, das habe ich. Die ganze Zeit schon. Warum? Denkst du darüber nach, so etwas auf die Beine zu stellen?“

„Ich habe darüber nachgedacht. Aber ich bin nur ein Mann. Und ich wäre viel besser bei den geschäftlichen Dingen. Wenn ich allerdings einen Partner hätte.“

„Du scheinst eine Sache zu vergessen. Du wirst niemanden in dieser Stadt dazu bringen, bei so etwas mitzumachen. Glaub mir, ich hab’s versucht.“

„Du hast versucht, die Leute zu überzeugen. Aber hast du darüber nachgedacht, es einfach selbst zu tun? Du brauchst keine Erlaubnis, um nach dem zu streben, was du im Leben willst. Du musst nur wissen, was du willst und dann nicht aufhören, bis du es erreicht hast.“

„Claude? Ich dachte, ich hätte dich hier draußen gehört. Bist du wegen mehr Croissants gekommen?“, sagte Dr. Sonya, während sie meine Bestellung brachte.

„Natürlich, das weißt du doch“, sagte Claude mit einem Lächeln zu ihr.

„Nun, es sind nur noch zwei übrig, aber ich werde sie dir überlassen, wenn du mir noch mal zeigst, wie man diese eine Sache da am Computer macht. Es wird nur einen Moment dauern.“

Claude sah mich mit einem Lächeln an, das mir sagte, dass es länger als einen Moment dauern würde.

„Natürlich.“

„Es tut mir leid, dich immer wieder damit zu belästigen. Mein Computertechniker ist über alle Berge Footbälle markieren“, sagte sie täuschte ein Weinen vor.

„Keine Sorge. Ich werde es dir jetzt zeigen.“ Claude stand auf. „Denke darüber nach, Titus. Was genau willst du?“

Ich beobachtete, wie die beiden das Haus betraten und dachte dann über Claudes Vorschlag nach. Ich hatte viele Male darüber nachgedacht, Touren anzubieten. Ich wusste nie, wo ich anfangen sollte. Das war wahrscheinlich der Grund, warum ich mich so darauf konzentrierte, die Menschen davon zu überzeugen, die Stadt zugänglicher zu machen. Ich dachte, dass sich damit eine Gelegenheit ergeben würde.

Aber vielleicht hatte Claude recht. Vielleicht lag es an mir, meine eigenen Gelegenheiten zu erschaffen. Vielleicht war es Zeit für mich zu entscheiden, was ich wollte.

Als ich meinem Verstand von einer Sache zur nächsten springen ließ, beruhigte er sich schließlich. Es gab nur eine Sache, die ich wirklich wollte. Sie war so klar wie der Himmel über den Bergen vor mir. Was ich mehr wollte als das Leben selbst, war Lou.

Ich verließ Dr. Sonyas Pension und fuhr herum, während ich nachdachte. Was war ich bereit zu tun, um sie zu haben? Ich war bereit, alles zu tun. Was bedeutete das?

Als es dunkel wurde, kehrte ich in ein leeres Haus zurück und machte etwas zu essen. Da ich wusste, dass ich morgens zum Unterricht zurückkehren würde, ging ich früh ins Bett. In der Dunkelheit liegend überlegte ich mir einen Plan. Ich würde Lou sagen, wie ich mich fühlte. Ich konnte es nicht mittels einer Textnachricht machen. Es musste persönlich sein.

 

Mitten während des ersten Kurses am nächsten Morgen summte mein Telefon. Es war Lou. Ich las die Nachricht und alle anderen, die sie geschickt hatte.

‚Wo bist du?’

‚Kommst du nicht?

‚Ich muss mit dir reden.’

‚Im Ernst, wo bist du?’

‚Du machst mich wahnsinnig.’

Die Nachricht von heute Morgen war anders.

‚Ich brauche dich. Bitte rede mit mir.’

Ich wusste, worüber sie mit mir reden musste. Sie hatte sich verlobt. Sie wollte, dass ich mich so für sie freue, wie ich es immer tat. Normalerweise mochte ich es, ihr größter Cheerleader zu sein. Lou war ein fantastisches Mädchen. Ich war mir sicher, dass sie nicht erkannte, wie großartig sie war. Ich war äußerst froh, sie daran zu erinnern, wenn ich konnte.

Aber ich konnte das nicht für sie tun. Ich konnte nicht so tun, als wäre ich glücklich, dass sie sich mit einem Typen verlobt hatte, den sie seit zwei Wochen kannte. Nie im Leben.

Ich liebte sie. Ich wollte mit ihr zusammen sein. Und keinesfalls wusste Seymour, oder wie auch immer sein Name war, wie unglaublich Lou war.

‚6:30 im Commons’, antwortete ich und brach mein Schweigen.

Sie schickte ein Herz-Emoji zurück. Das entlockte mir ein Lächeln.

Ich machte gerade keinen Fehler. Lou musste Gefühle für mich haben, richtig? Ich war der Typ, zu dem sie nach all ihren Dates zurückkehrte. Ich war derjenige, zu dem sie kam, wenn sie traurig war. Ich war ihr Typ.

Und wenn ich ihr sagte, dass ich sie liebte, würde sie wissen, dass sie einen Fehler gemacht hatte, als sie zu diesem anderen Kerl Ja gesagt hatte. Sie würde dann ihre Verlobung auflösen und wir könnten endlich das Leben haben, das für uns bestimmt war.

Für den Rest des Tages tat ich mein Bestes, um meinen Kursen aufmerksam zu folgen. Aber es war schwer, mich von dem abzulenken, was der wahre Anfang meines Lebens sein würde. Ich hatte sie so lange geliebt. Nero hatte mich schon vor Monaten durchschaut.

Als ich für die letzte Stunde vor unserem Treffen in meinen Schlafsaal zurückkehrte, traf ich auf meinen neuen Mitbewohner Cali. Erstaunlicherweise hatte er über den Sommer hin einen Wachstumsschub erlebt. So hatte sich das einst dünne, dunkelhaarige Kind, das immer einen mysteriösen Blick in seinen Augen hatte, in den ruhigen, gut gebauten Sportler verwandelt.

 

„Hey“, grunzte er, als ich meine Tasche auf das Bett warf und dahinter hineinkletterte.

Ich sah zu ihm hinüber. Er hatte sein Hemd ausgezogen. Er musste gerade vom Footballtraining zurückgekommen sein.

„Hey.“

„Du bist nach Hause gegangen?“

„Hä? Oh ja. Ich musste den Kopf freibekommen.“ Ich sprang auf. „Moment, kennst du einen Typen im Team namens Seymour?“

„Sey? Ja, was ist mit ihm?“

„Was hältst du von ihm?“

Cali schaute weg.

„Er ist in Ordnung, denke ich. Warum fragst du?“

„Ich glaube, er hat Lou gebeten, ihn zu heiraten.“

Cali sah mich überrascht an. „Deine Lou?“

„Ja“, sagte ich mit einem Blick, der sagte, wie unglücklich ich darüber war.

„Verdammt. Okay. Willst du ihn aufmischen gehen?“

Das war nicht die Antwort, die ich erwartet hatte.

„An sowas hatte ich nicht gedacht. Aber es klingt verlockend“, sagte ich mit einem Lachen. Ich war mir nicht sicher, warum, aber was er sagte, bescherte mir ein besseres Gefühl. „Was weißt du sonst so von ihm?“

Cali dachte nach. „Reicher Typ. Kam von Nashville her.“

„Er ist aus Nashville hergewechselt?“, fragte ich und wusste, dass trotz der Reihe von East Tennessee Meisterschaften dank Nero und seinem Bruder Cage Nashville ein viel prestigereicheres Football-Programm hatte.

„Genau. Er sagte, er mochte, was wir hier hatten.“

 

„Hm. Wie ist er auf dem Feld?“

„Er ist unser Starting Quarterback. Er ist nicht so gut wie Mr. Rucker nennen. Aber er ist okay.“

Ich lächelte.

„Er ist nicht mehr dein Trainer. Du kannst ihn Cage nennen.“

Cali antwortete nicht.

„Wenn du dich uns anschließt, wenn wir abhängen, kannst du ihn nicht Mr. Rucker nennen. Das ist dir klar, oder?“, neckte ich ihn.

Cali wurde rot. Er mag wie ein neuer Wolf ausgesehen haben, aber im Inneren war er derselbe respektvolle Kleinstadtjunge. Ich musste auf ihn aufpassen. Ohne jemanden, der einem durch die Übergangsphase half, konnte die East Tennessee University einen durcheinander bringen. Ich hatte das Glück, Gestaltwandler wie Nero und Quin und vor allem einen Menschen wie Lou zu haben.

Cali und ich verstummten, als ich überlegte, was ich Lou sagen würde. Ich wollte nicht um den heißen Brei herumreden. Ich würde es einfach sagen.

‚Lou, ich liebe dich. Das habe ich immer getan. Und ich möchte, dass wir zusammen sind. Lou, ich liebe dich. Das habe ich immer getan. Und ich möchte, dass wir zusammen sind.’

Ich probte die Worte, bis der ganze Stress davon nicht mehr den Wunsch in mir hervorrief, zum Wolf zu werden und alle um mich herum niedermetzeln zu wollen. Es dauerte eine Weile, aber als es Zeit wurde, Lou zu treffen, war ich bereit.

„Viel Glück“, sagte Cali, obwohl ich ihm nicht gesagt hatte, was ich tun würde.

„Danke“, antwortete ich und fragte nicht, was er wusste.

Als ich vor dem Gehen in den Spiegel schaute, sah ich in die Augen des zotteligen Typen, der zurückblickte. Gab es irgendeinen Grund für Lou, mich dem reichen, breitkinnigen Quarterback vorzuziehen, der darum gebeten hatte, sie zu heiraten? Wenn ja, sah ich ihn nicht.

Aber Lou musste wissen, dass niemand sie so lieben würde wie ich.  Ich würde alles tun, um sie glücklich zu machen. Wer sonst könnte das sagen? Lou musste wissen, dass das stimmte.

Ich überquerte den Campus und näherte mich den großen Metalltüren des Commons, betrat diesen und ging eine halbe Treppe zum Studiensaal hoch. Lou und ich trafen uns oft hier. Wenn wir denselben Kurs besuchten, kamen wir hierher, um zusammen zu lernen. Wenn nicht, kamen wir her, um so zu tun, als würden wir lernen, während Lou mir von ihrem letzten Date erzählte.

Ich entdeckte sie auf der Couch auf der anderen Seite des Raumes und ging hinüber. Das war unser üblicher Platz. Er erlaubte uns, einander nahe genug zu kommen, um zu flüstern, ohne andere zu stören.

Mein Herz zog sich zusammen, als ich sie ansah. Mein Gott war sie schön. Sie war weder besonders kurvig noch groß, aber sie machte das mit ihrer Persönlichkeit wett. Ihre Apfelbacken und ihr keckes Lächeln ließen sie immer so aussehen, als hätte sie Spaß, auch wenn sie keinen hatte. Und ihr leicht gesträhntes dunkles Haar war gerade lang genug, um mit den Fingern hindurchzufahren und zu ziehen, wenn der richtige Moment kam.

Lou hatte heute jedoch nicht ihr normalweise verspieltes Grinsen. Es war Traurigkeit in ihren Augen. War es, weil sie mir ihre großen Neuigkeiten überbrachte? Was auch immer es war, es gab etwas, das ich zuerst sagen musste. Es musste jetzt sein. Wenn nicht, wusste ich nicht, wann ich wieder den Mut dazu haben würde.

Als ich mich ihr näherte, trafen sich unsere Augen. Ich schmolz. 

‚Lou, ich liebe dich. Das habe ich immer getan. Und ich möchte, dass wir zusammen sind’, probte ich.

Ich setzte mich neben sie und sie tat etwas, was sie noch nie zuvor getan hatte. Sie legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel, während ihr Blick zu Boden fiel. Die Geste ließ mich erstarren. Was ging gerade vor sich? Ich wollte es hinter mich bringen und begann.

„Lou, ich …“

„Meine Großmutter ist gestorben“, fiel sie mir ins Wort.

„Was?“

„Darum sind meine Eltern in die Stadt gekommen, um es mir zu sagen. Die Beerdigung war letzten Samstag.“

„Sie haben dir nichts von der Beerdigung erzählt?“, fragte ich schockiert.

Lou hatte mir von ihr erzählt. Sie hatte gesagt, dass ihre Großmutter der einzige Grund war, warum sie ihre Kindheit überlebt hatte. Nun war sie tot und ihre Eltern hatten ihr die Möglichkeit gestohlen, sich zu verabschieden.

„Es tut mir so leid“, flüsterte ich und mein Herz schmerzte für sie.

Dann tat Lou noch etwas, was sie noch nie getan hatte. Sie fiel mir in die Arme und weinte. Ich hielt sie und vergaß jedweden Plan, den ich hatte. Lou brauchte mich und ich würde alles tun, was ich tun musste, um für sie da zu sein.

 

 

Kapitel 3

Lou

 

Nichts hatte sich real angefühlt, bis ich es Titus erzählte. Und nachdem ich es gesagt hatte, wusste ich, dass meine Großmutter wirklich gegangen war. Ich würde sie nie wiedersehen. Nicht einmal in einem Sarg. Meine Eltern hatten mir das geraubt. Ich wusste schon immer, dass meine Familie mich hasste, aber ich wusste noch nicht, dass sie so grausam sein konnten.

„Sie ist weg“, sagte ich und fühlte, wie sich seine warmen Arme um mich schlangen. „Ich kann nicht glauben, dass sie weg ist.“

„Es tut mir so leid“, wiederholte er immer wieder.

Das war ausreichend für mich, um ihm zu verzeihen, dass er sich bis jetzt nicht bei mir gemeldet hatte. Er hatte gesagt, dass er kommen würde, um mich davor zu retten, mit meinen Eltern allein zu sein. Ich hatte ihn sogar vor der Tür stehen sehen. Er hatte sich entschieden, nicht hereinzukommen.

Zu sehen, wie er wegging, hatte mich verletzt. Das Einzige, was ich wollte, war das, was ich jetzt tat, in seinen Armen zu weinen. Doch er hatte mich verlassen. Ich hatte mich noch nie so allein gefühlt.

Aber nichts davon hatte noch eine Bedeutung, jetzt, da er hier war. Wir sprachen nicht darüber, warum er gegangen war. Es gab jede Menge Dinge, über die wir uns nicht unterhalten brauchten.

Ich wusste nicht, wie ich ihm die Nachricht von meiner Verlobung mitteilen sollte. Das lag zum Teil daran, dass ich nicht sicher war, ob wir tatsächlich verlobt waren. Ja, er hatte mir mit einem Chor seiner Teamkollegen, die im Hintergrund sangen, einen Antrag gemacht. Es war das Romantischste, was je jemand für mich getan hatte, und ich hatte ja gesagt. Aber wo ist er seitdem?

Es war beschissen von meinen Eltern, am Tag meiner Verlobung diese Bombe platzen zu lassen. Daran bestand kein Zweifel. Es hatte das ruiniert, was der glücklichste Tag unseres Lebens hätte sein sollen. Aber ich war nicht diejenige, die es getan hatte. Ich war das Mädchen, dem das Herz herausgerissen wurde. Es gab wichtigere Dinge als große Gesten und Sey hatte darum gebeten, mein Ehemann zu sein.

Klar, als ich wie betäubt dasaß, hatte er seine Teamkollegen nach Hause geschickt und meine Hand gehalten, während ich versuchte, alles zu verarbeiten. Aber irgendwann begleitete er mich nach Hause und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.

Dachte er, es sei an mir, ihn zu kontaktieren, um darüber zu sprechen, wie es mir geht? Wollte er mir Raum zum Trauern geben?

Was auch immer er tat, ich hasste alles daran. Und da es über vierundzwanzig Stunden her war, seit ich das letzte Mal von ihm gehört hatte, begann ich zu glauben, dass sein Antrag ein Witz gewesen war. Vielleicht war „Witz“ das falsche Wort. Vielleicht hatte er es getan, weil er wusste, wie unsicher meine Eltern mich machten und beschloss, dass dies ihnen beweisen würde, dass jemand mich schätzte.

Ich hatte ihm nichts über die Schwierigkeiten erzählt, die ich über die Jahre mit meiner Familie hatte. Aber könnte das nicht ein Zeichen dafür sein, dass er der Richtige war? Dass er wusste, was ich brauchte, ohne dass ich etwas sagen musste?

„Was würdest du gerne tun?“, fragte Titus mich und brach schließlich die Stille.

„Nichts“, gab ich zu. „Ich möchte nur hier sitzen.“

„So lange, wie du willst“, sagte er und meinte es ernst.

„Weißt du, was wirklich schön wäre? Einen Spieleabend zu haben. Nichts Großes. Einfach etwas Schönes, weißt du?“

„Ich werde es arrangieren.“

Mit seinen beruhigenden Worten setzte ich mich auf und entzog mich seinen Armen. Ich musterte ihn. Er war der beste Freund, den man haben konnte. Das war wahrscheinlich der Moment, ihm von meiner Verlobung zu erzählen. Selbst wenn es kein echter Antrag gewesen war, war dies meine Chance, es zur Sprache zu bringen.

Vielleicht würde er mich damit aufziehen, dass ich beim Verloben genauso schnell war wie mit allem anderen. Vielleicht würde ich dann ein paar spitze Bemerkungen darüber machen und meinen Moment des Wahnsinns beiseiteschieben. Was auch immer passieren würde, dies war meine Gelegenheit, es Wirklichkeit werden zu lassen.

„Ich denke, ich möchte ins Bett gehen“, sagte ich ihm stattdessen.

„Natürlich“, sagte er, sammelte meine Sachen für mich und bot mir seine Hand an, um mir aufzuhelfen.

Ich ergriff sie und schob dann meinen Arm um seine Taille. Ich fühlte mich immer so klein in seinen Armen. Ich wusste nicht, ob er so gebaut war, weil er Footballspieler war oder ein Wolfswandler.  Aber er würde eines Tages einen heißen Freund für ein Mädchen abgeben.

Dachte ich, dass es eine Chance gab, dass er wollte, dass ich dieses Mädchen war? Offensichtlich. Ich hatte genug Typen nach einer Verabredung gefragt, um zu wissen, wenn jemand dachte, dass ich hübsch war.

Aber es gab einen großen Unterschied zwischen jemanden attraktiv finden und bereit zu sein, die nötigen Dinge zu tun, um in einer Beziehung zu sein.

Der Schlüssel ist, den Unterschied erkennen zu können. Und ich denke nicht, dass Titus der Ansicht ist, dass ich all den Aufwand wert bin. Das wird er vielleicht nie sein.

Das war aber in Ordnung, denn er war der beste Freund, den ich je hatte. Ich wusste nicht mal, dass eine Freundschaft wie seine möglich war, bevor ich ihn traf. Warum sollte ich irgendetwas tun wollen, um das zu vermasseln?

Das wäre das Dümmste, was ich je tun könnte. Und ich habe etliche dumme Dinge getan. Da war sogar das eine Mal, als ich zustimmte, jemanden zu heiraten, mit dem ich nur zwei Dates hatte. Kannst du dir das bitte mal vorstellen?

Titus begleitete mich zurück zu meinem Wohnheim und kam mit hinein. Quin war zu Hause.

„Hey Titus“, sagte sie fröhlich.

Die beiden hatten sich in unserem ersten Semester kennengelernt, als Quin noch dachte, dass sie die einzige Wolfswandlerin der ganzen Welt war. Ihr Wolf hatte sie zu Titus‘ Heimatstadt geführt, als sie auf der Suche nach den leiblichen Eltern ihres Freundes waren. Quin war auch diejenige, die Titus davon überzeugt hatte, die East Tennessee zu besuchen. Die beiden hatten eine lange Geschichte.

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass Lous Großmutter gestorben ist?“, fauchte Titus Quin an.

Quin erstarrte. „Lou, deine Großmutter ist gestorben?“

„Ja, es ist keine große Sache“, sagte ich und versuchte, meine Unachtsamkeit zu übertünchen.

„Wann?“, fragte Quin und ihr süßes Gesicht zog sich in Falten.

„Das war der Grund, warum meine Eltern in die Stadt gekommen sind, um es mir zu sagen.“

Quin bedeckte ihren Mund, als Tränen ihre Augen füllten.