IHR ROTES KÄPPCHEN

Kapitel 1

 

Redinas Gesicht errötete, als sie das Rascheln in den Büschen vor sich vernahm. Keinesfalls hatte sie Angst davor, durch den Wald zu reisen. Nicht einmal die Entfernung, die sie zum Haus ihrer Großmutter zurücklegen musste. Sie musste allerdings zugeben, dass die Unruhe der anderen Dorfbewohner an ihr nagte. Wölfe waren am Fluss gesichtet worden. Zwei Menschen in einem nahe gelegenen Dorf waren von ihnen getötet worden. Und sie war hier und lief allein durch den Wald.

„Alles in Ordnung, Red“, sagte sie sich und weigerte sich, sich der örtlichen Hysterie anzuschließen. „Du bist diesen Weg schon tausendmal gegangen. Außerdem liegt der Fluss in der entgegengesetzten Richtung. Wenn überhaupt, dann laufe ich in Sicherheit.“

Ihre Worte laut ausgesprochen zu hören reichte aus. Sie machte sich lächerlich. Sie war nicht die Art Mädchen, die Angst davor hatte, das Haus nicht in Begleitung eines starken Mannes zu verlassen, und sie würde es auch nicht werden.

Sie spürte, wie die Hitze auf ihren Wangen verschwand, straffte ihre Schultern, strich ihren Umhang glatt und umfasste ihren Korb kräftiger. Sie ging einen Schritt weiter und das Gebüsch raschelte erneut, was Red sagte, dass das erste Mal kein Zufall gewesen war.

„Wer ist da?“, rief sie in einer so tiefen, selbstbewussten Tonlage, wie sie aufbringen konnte.

Das Gebüsch raschelte erneut.

„Ich höre dich. Ich weiß, dass du da bist. Du kannst genauso gut herauskommen. Wenn du das tust, werde ich davon absehen, dir wehzutun“, sagte sie und ließ ihre freie Hand in den Korb gleiten.

Sie bluffte. Das Gefährlichste, was sie bei sich hatte, war ein Brotlaib. Sicher, ihre Mutter machte das härteste, ungenießbarste Brot des ganzen Dorfes. Doch der einzige Schaden, den sie damit anrichten könnte, wäre den Gegenüber dazu zu bringen, es zu essen und sich dabei einen Zahn auszubrechen.

„Ich werde es nur noch einmal sagen. Komm heraus und ich füge dir kein Leid zu.“

Sehr zu Reds Enttäuschung raschelte der Busch daraufhin. Sie hoffte immer noch, dass es ein Kaninchen oder Vogel war. Nein, was auch immer es war, es war groß und, mit viel Pech, gefährlich.

„Na los. Komm heraus!“, befahl sie, als das Geräusch sich bewegte.

Was auch immer es war, es war ganz nah und kam näher. Reds Herz klopfte und sie hinterfragte, was sie getan hatte.

„Genau. Bring mich nicht dazu, dir eine Axt zwischen die Augen zu jagen.“

Das Rascheln hörte auf. Es verstand sie. Was war es? War es ein Wolf oder etwas anderes?

Moment, sie sah etwas. Sie erblickte es zwischen den Zweigen an der Biegung des Weges fünfzehn Fuß vor sich. Es war kein Wolf. Es war ein Mensch.

„Das ist nah genug“, erklärte Red. „Jetzt gehe auf die Lichtung, damit ich dich sehen kann.“

Die Person bewegte sich nicht.

„Tu es!“, bellte Red.

Die Person folgte. In einer flüssigen Bewegung stand die Person auf und trat langsam auf den Pfad vor ihr. Reds Mund stand auf. Was erblickte sie da? Nun, sie konnte  schon erkennen, was sie da sah, sie konnte es aber nicht ganz glauben.

„Du bist nackt“, sagte Red zu dem jungen Mann, der vor ihr stand. 

Der Mann rührte sich nicht. Er musterte sie, sah weder bedrohlich noch verlegen aus. Er stand einfach da, als würde er vollständig bekleidet durch das Dorf gehen.

Je länger der junge Mann still war, desto unruhiger wurde Red. Es war nicht wirklich Ärger, sondern vielmehr Anspannung. Sie war nur mit ihrer Mutter zusammen aufgewachsen und hatte noch nie zuvor einen nackten Mann gesehen. Sie war schon immer überaus neugierig gewesen, was sich hinter der Beule in deren Leistengegend befand, und jetzt gerade eröffnete sich ihr die perfekte Gelegenheit, es herauszufinden. Sollte sie hinschauen? Konnte sie sich überhaupt davon abhalten, hinzuschauen?

Red sah dem jungen Mann ins Gesicht, , so lange sie konnte. Er schien ungefähr in ihrem Alter oder etwas älter zu sein. Trotzdem hatte er kein Haar am Kinn. Würde welches auf seiner Brust sein?

Sie gab nach und senkte die Augen. Nein, seine Brust war breit und stark, aber haarlos. Er hatte den Körperbau eines Mannes. Seine Brustmuskeln wölbten sich und … ihre Augen senkten sich erneut, um sich davon zu überzeugen … sein Bauch war voller Kraft gestählt. Dieser Fremde konnte gut möglich die schönste Person sein, die sie jemals gesehen hatte.

Ihr Gesicht, ihre Brust, ihr ganzer Körper prickelte vor Hitze. Was war mit ihr los? Sie fühlte sich ihres Atems beraubt. Sie musste wirklich hinsehen. Alles in ihrem Körper schrie ihr zu, nach unten zu schauen. Als sie das tat, konnte sie sich kaum dazu bringen, wegzusehen. Was war das? Was hatte sie gerade erblickt? Warum wollte sie unbedingt wieder hinschauen?

„Wer bist du?“, rief sie und setzte alles daran, nicht wieder hinzusehen.

Der junge Mann öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, ohne zu sprechen.

„Hast du keinen Namen? Hast du keine … Kleidung?“

Zum ersten Mal änderte sich etwas in den Augen des Jungen. War es Traurigkeit? Verlegenheit? Was auch immer es war, es brachte Red dazu, etwas für den Jungen zu empfinden. Sie wollte ihm näher sein. Sie wollte auf ihn aufpassen.

„Nun, du kannst nicht hier stehen und so mit mir reden. Hier, zieh das an.“

Ohne nachzudenken, stellte Red ihren Korb auf den Boden und löste die Kette, die die Hälften ihres Umhangs zusammenhielt. Sie nahm ihn von ihren Schultern und näherte sich dem Jungen. Seine Unbeweglichkeit lockte sie näher heran. Er reagierte überhaupt nicht auf ihre Annäherung und als sie weniger als eine Armeslänge vor ihm stehen blieb, hatte sie den Eindruck, dass sie ihre Arme um den großen, jungen Mann legen konnte, ohne dass er einen Muskel bewegen würde.

„Hier“, sagte sie. „Zieh das an.“

Reds Hand berührte seine Schulter, als sie den roten Stoff um ihn legte. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie bemerkte, dass sie ihn riechen konnte. Er hatte einen erdigen Geruch und es war herrlich. Es ließ ihre Knie schwach werden. Sie konnte fühlen, wie die Hitze seines nackten Körpers sie umhüllte und sie musste sich zusammenreißen, ihre Handfläche nicht gegen seine starke Brust zu legen und ihren prickelnden Körper an seinen zu drücken.

„So“, sagte sie und zog die Ränder ihres Umhangs vor ihm zusammen. „Jetzt bist du präsentabel.“

„Danke“, antwortete er, als würde er sich daran erinnern, wie man das tat.

„Du kannst sprechen? Ich dachte schon, dass du ein wildes Tier wärst, das gelernt hat, auf seinen Hinterbeinen zu laufen“, sagte sie mit einem Lächeln.

„Wildes Tier?“, fragte er und schien klare Gedanken fassen zu wollen.

Während er bedeckt war und sprach, beruhigte sich Red schnell. „Du bist kein wildes Tier, oder? Du hast doch einen Namen, nicht wahr?“

„Einen Namen? Ja. Mein Name ist Vetem, aber man nennt mich Tem.“

„Nun, ich bin Redina, aber die Leute nennen mich Red.“

„Hallo Red.“

Tem sah Red in die Augen und lächelte. Es war ein so schöner Anblick, dass Reds Herz schmerzte.

„Also, Tem, gibt es einen Grund, warum du nackt durch den Wald läufst?“

„Nackt?“, fragte er und sah nach unten. „Ich trage doch dies hier.“

„Jetzt. Ich meine vorher. Bist du hier draußen herumgelaufen, ohne deine Kleider zu tragen?“

„Ja“, antwortete Tem ohne einen Hauch von Verschämtheit.

„Sehr gut. Dann solltest du dich vielleicht nicht im Gebüsch verstecken, wenn Leute vorbeigehen. Du könntest mit einem Wolf verwechselt werden und einen Pfeil zwischen die Rippen bekommen, bevor du die Gelegenheit hast, dich zu erklären.“

„Ein Wolf?“

„Hast du das nicht gehört? Wölfe wurden in Wäldern in der Nähe des Flusses gesichtet.“

„Hast du Angst vor Wölfen?“

„Ich habe vor nichts Angst“, antwortete Red rebellisch.

„Von nichts?“

Als Red ihre Brust herausschob und ihre Schultern straffte, um zu antworten, richtete Tem seine Aufmerksamkeit von ihr auf den Weg hinter ihr. Die Bewegung unterbrach sie.

„Was?“, fragte sie, als Besorgnis über sein Gesicht huschte. Sie drehte sich um, um zu schauen, was er gesehen hatte, und hörte die Büsche vor sich Rascheln. Als sie wieder zurück blickte, war er weg.

„Tem? Warte, geh nicht. Tem? Tem, du hast meinen Umhang!“, rief sie und rannte zu der Stelle, an der er herausgestiegen war. „Ich brauche meinen Umhang wieder.“

Als Antwort ertönte ein Rufen hinter ihr. „Red! Red, bist du das?“

Red stoppte ihre Suche nach Tem und kehrte auf den Pfad zurück.

„Hunter, bist du das?“

„Ich bin es, Red. Wen rufst du?“

„Da war ein Mann, mit dem ich gesprochen habe. Was machst du hier draußen? Folgst du mir?“

„Dir folgen? Warum sollte ich?“, sagte Hunter mit einem Lachen, als er in Sicht kam. Er hatte sich für eine lange Jagd gekleidet.

„Ich weiß nicht. Ich kann mir die meisten Dinge, die Männer tun, nicht erklären.“

„Nun, Red, ich kann dir versichern, dass ich nicht hier draußen bin, weil ich dir folge“, sagte er mit einem strahlenden Lächeln.

Red war es peinlich, ihn dessen beschuldigt zu haben. Sie wusste, dass er ihr nie einen Grund gegeben hatte, ihm nicht zu vertrauen. Tatsächlich war er immer sehr gut zu ihr gewesen. Wenn es nicht die strenge Regel ihrer Mutter gegeben hätte, dass sie nur einen Adligen heiraten würde, hätte sie Hunter vielleicht als potentiellen Ehemann betrachtet. Er hatte sicherlich genug Interesse an ihr gezeigt, um eine solche Überlegung zu rechtfertigen.

„Du hast recht. Ich kann jetzt sehen, dass du für die Arbeit angezogen bist.“

„Und ich kann sehen, dass du kaum angezogen bist.“

„Wovon redest du, ‚kaum angezogen‘? Ich bin so gekleidet, wie jede ordentliche Frau.“

„Natürlich bist du das. Mein Fehler. Es ist nur so, dass ich dich nie ohne deinen roten Umhang gesehen habe. Du siehst praktisch nackt aus. Was würde deine Mutter sagen? Der Skandal!“

„Nun, der Umhang ist nicht an mir festgenäht. Vielleicht habe ich ihn zu Hause gelassen und wollte ihn auf meinem Spaziergang nicht schmutzig machen. Hast du vielleicht schon mal daran gedacht?“, fragte Red abwehrend.

Hunter hob die Hände und lachte. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht beleidigen. Ich habe nur einen Witz gemacht. Das ist alles. Außerdem mag ich dich irgendwie ohne deinen Umhang. Es gestattet einem zu sehen …“

Red stemmte die Fäuste in die Hüften und wartete wütend auf das, was er als Nächstes sagen würde. „Erlaubt einem was zu sehen?“

„Deine wundervolle Veranlagung, Red. Ohne deinen Umhang ist deine wunderbare Veranlagung für die ganze Welt sichtbar. Und was für eine wunderbare Veranlagung das ist“, sagte er mit einer Verbeugung und einem teuflischen Grinsen.

„Aha.“

Red fühlte sich angriffslustiger als gewöhnlich, beruhigte sich und suchte auf dem Boden nach ihrem Korb. Wo immer Tem auch war, es war nicht hier und er hatte ihren Umhang. Sie würde ihn wieder brauchen und sie hatte keine Lust zu erklären, wie sie ihn überhaupt verloren hatte.

„Was machst du eigentlich, dass du in diesen Teilen des Waldes jagst? Ist die profitable Beute nicht am Fluss?“

„Die Wölfe? Das ist, was erzählt wird. Und dort wird jeder andere Mann mit einem Schwert oder Bogen suchen. Aber ich bin der Beste in dem, was ich tue, weil ich nicht wie alle anderen denke.“

„Glaubst du, hier draußen gibt es Wölfe?“

„Hier sind die Hirsche. Es würde ganz einfach Sinn machen. Und wenn ich kein königliches Kopfgeld für einen Wolfskopf sammeln kann, bekomme ich vielleicht einen Hirsch für die königliche Küche.“

„Du scheinst einen Plan zu haben“, gab Red zu.

„Das habe ich. Was ist mit dir? Bist du auf dem Weg zum Haus deiner Großmutter?“

„Meine Mutter wollte, dass ich ihr etwas von dem Brot bringe, das sie ihr gebacken hat.“

„Ist sie wütend auf deine Großmutter oder so?“

„Meine Mutter ist keine so schlechte Bäckerin“, antwortete Red mit dem Gefühl, ihre Mutter verteidigen zu müssen.

„Red, deine Mutter ist eine schöne Frau, vielleicht gleich an zweiter Stelle nach dir. Und ich bin sicher, deine Mutter hat viele andere gute Eigenschaften. Backen, Kochen und Höflichkeiten gehören nicht dazu.“

Red wollte Hunter gerade die Meinung geigen, wie er so etwas von sich geben konnte, war aber nicht in der Lage, die Scharade weiter fortzusetzen. „Wem mache ich etwas vor? Du hast recht. Trotzdem hat sie mich zu meiner Großmutter geschickt, um ihr Brot zu bringen, und ich tue das wie alle guten Mädchen.“

„Trotz allem durch Wälder, die von Wölfen heimgesucht werden. Du wirst einem Mann mal eine gute Frau sein.“

„Willst du damit sagen, dass Gehorsam die einzige Eigenschaft ist, die eine Frau zu einer guten Frau macht?“

„Red, das habe ich nicht gesagt! Ich habe nur gesagt …“ Hunter machte eine Pause. „Habe ich dir eigentlich schon ein Kompliment zu deiner wunderbaren Veranlagung gemacht?“

Red warf ihm einen Seitenblick zu und hob ihren Korb auf. „Nachdem jetzt alles gesagt ist, werde ich mich auf den Weg machen.“

„Ich hoffe, ich habe dich nicht beleidigt“, sagte Hunter und holte Red ein, als sie den Weg weiterlief.

„Ich denke, du hast deine Sichtweise deutlich gemacht. Ich möchte dich nicht zu lange meiner wunderbaren Veranlagung belagern. Du könntest vor Freude sterben.“

„Das werde ich riskieren.“

„Es ist dein Recht zu gehen, wohin auch immer du willst, aber ich bin heute damit durch, mit dir zu reden“, sagte sie streng.

„Dann war es mir eine Freude, mit dir zu sprechen. Ich freue mich auf die nächste Gelegenheit“, sagte er mit einem Lächeln und einer Verbeugung, bevor er weiter an ihrer Seite ging.

 Die beiden gingen noch eine Stunde lang schweigend weiter. Anfangs war Red verärgert, aber dann wuchs ihr Hunters Geste ans Herz. Sie war nicht wirklich böse auf ihn und hätte es nicht an ihm auslassen sollen. Sie war sauer auf sich selbst, weil sie ihren Umhang verloren hatte. Ihre Mutter würde sehr verärgert sein, als sie es herausfand.

Gleichzeitig war Red ein wenig froh, dass er weg war. Hunter hatte recht. Sie ging nie ohne ihn irgendwohin. Sie hatte ihn niemals so oft tragen wollen, wie sie es tat, aber ihre Mutter drängte sie dazu. Es war alles Teil des Plans ihrer Mutter, sie mit einem Adligen zu verheiraten.

Red verabscheute diesen Plan schon immer. Aber trotz all ihrer Fehler war das Einzige, was Red wahrhaftig war, eine gehorsame Tochter zu sein … meistens. Oder zumindest soweit ihre Mutter es wusste.

Mit dem Haus ihrer Großmutter nur noch ein kurzes Stück den Weg entlang, blieb Hunter stehen. Die Veränderung überraschte Red. Sie hatte sich gefragt, wie weit er es wohl treiben würde. Selbst er hatte eindeutig seine Grenzen. Obwohl er nicht weiter vorankam, entfernte er sich auch nicht aus dem Blickfeld.

Er sagte immer noch kein Wort und sah zu, wie Red sich der Tür ihrer Großmutter näherte, klopfte und begrüßt wurde.

„Red, was machst du hier?“, fragte ihre Großmutter nicht annähernd so aufgeregt, wie Red dachte, dass es eine Frau, die alleine mitten im Nirgendwo lebte, sein sollte, wenn sie ihr einziges Enkelkind sah. Andererseits tat ihre Großmutter selten das, was Red erwartete.

„Mutter wollte, dass ich dir etwas zu essen bringe.“

„Wer ist dein hübscher Begleiter?“

Red sah zurück zu Hunter. Ihre Großmutter hatte recht. In einem bestimmten Licht war er gutaussehend. „Nur jemand, den ich aus dem Dorf kenne. Ich bin ihm auf dem Weg hierher begegnet, und ich glaube, er wollte sicherstellen, dass ich es sicher zu dir schaffe.“

Ihre Großmutter musterte Hunter, der zurückstarrte. „Ich denke, er mag dich. Ich wette, er wäre ein wunderbarer Liebhaber.“

„Oma!“, sagte Red schockiert.

„Er sieht aus wie ein starker Mann. Das Letzte, was du willst, ist ein schwacher Mann. Du willst einen Mann, der dich wissen lässt, dass er im Schlafzimmer das Sagen hat.“

„Oma!“, rief Red aus und errötete.

„Vielleicht sollten wir ihn einladen.“

„Keinesfalls. Keinesfalls!“, sagte Red, schob ihre Großmutter hinein und schloss die Tür hinter sich.

Bevor sie es tat, warf sie einen letzten Blick auf Hunter. Er verneigte sich. Red schloss die Tür, bevor sie ihn aufstehen sah. Hunter war sicherlich ein starker Mann. War es das, was es brauchte, um im Schlafzimmer gut zu sein?

Red wusste über die Details von all dem nicht wirklich viel. Wie jedes andere Kind in ihrem Dorf hatte sie die Tiere während der Paarungszeit gesehen. Aber es gab ihr keinen Hinweis darauf, wie es sein würde, wenn sie und ihr Mann in eine sexuelle Umarmung fielen.

„Also, deine Mutter hat mir Brot geschickt, was?“, sagte ihre Großmutter misstrauisch. „Hat sie mir noch etwas geschickt?“

„Nur eine Notiz“, sagte Red und reichte ihr den Brotkorb.

Sie holte eines der Brote heraus und klopfte damit auf den Tisch. Das Brot war steinhart. Sie sah Red an. Red zuckte die Achseln.

Ihre Großmutter kehrte zum Korb zurück und holte die Notiz heraus. Sie faltete sie auseinander und las sie.

„Hast du das gelesen?“, fragte ihre Großmutter.

„Nein, Oma. Es war für dich.“

Ihre Großmutter sah Red misstrauisch an und schob den Brotkorb zur Seite.

„Wenn man bedenkt, wie spät du gekommen bist, kann ich mir vorstellen, dass du die Nacht über bleiben willst?“

„Ist das ein Problem?“, fragte Red unfähig sich vorzustellen, was eine alte Frau, die alleine lebte, sonst mit ihrer Zeit tat.

„Nein. Das ist in Ordnung. Aber du gleich morgen früh wieder los.“

„Sicher, Oma. Ich werde morgen früh gehen.“

Zu diesem Zeitpunkt war Red mehr als verwirrt, sie war irritiert Sie war viele Male im Haus ihrer Großmutter gewesen und hatte sie noch nie so erlebt. Hatte Red etwas falsch gemacht? Red mochte ihre Großmutter sehr. Das Letzte, was sie jemals tun wollte, war, sie zu verärgern.

„Okay. Ich kann sehen, dass ich dich beunruhigt habe“, sagte ihre Großmutter.

„Nein, Oma. Es geht mir gut.“

„Dir geht es eindeutig nicht gut.“

Ihre Großmutter starrte sie mit einem durchdringenden Blick an, der Reds Augen tränen ließ. Sie hatte wirklich nicht vorgehabt, ihre Großmutter zu verärgern. Vielleicht war es möglich, dass sie sofort gehen konnte.

„Okay. Ich habe dich beunruhigt. Hier. Hinsetzen. Du kannst die Nacht über bleiben. Es ist nur …“ Reds Großmutter sah weg und blickte auf den Boden. Sie sah für einen Moment erstarrt aus und sah dann intensiv zu Red zurück.

„Wie alt bist du jetzt, Redina?“

„Ich bin 18.“

„Dann bist du eine Frau.“

„Das bin ich“, sagte Red und wischte sich die Tränen aus den Augen.

„Es ist Zeit für mich, ein kleines Geheimnis mit dir zu teilen.“

„Ein Geheimnis? Ein Geheimnis über was?“

„Ein Geheimnis darüber, wer du bist.“

„Ein Geheimnis darüber, wer ich bin? Wer bin ich?“

„Mehr als du denkst“, sagte ihre Großmutter und ließ sie gespannt dasitzen.

 

 

Kapitel 2

 

Red lief in der Einzimmerhütte umher und setzte sich schließlich auf einen der beiden Stühle am Esstisch. Sie sah zu, wie ihre Großmutter die Teekanne vom Herd nahm und bewunderte, wie sie sich bewegte. Sie hatte ihre Großmutter kaum mit offenen Haaren gesehen, und als Red sie jetzt so sah, wurde ihr klar, wie schön sie war.

Im Gegensatz zu allen anderen Großmüttern im Dorf war das Haar von Reds Großmutter tiefschwarz mit nur einem Hauch grau. Sie war auch eine üppigere Frau als die anderen Großmütter. Aber sie war nicht überall üppig, nur an den Stellen, die sie weiblicher machten. Red beneidete ihre gealterte Schönheit und war stolz darauf, dass sie eines Tages wie sie aussehen könnte.

„Was hat deine Mutter dir über ihren Vater erzählt?“, fragte ihre Großmutter und stellte eine Tasse Tee und Butterbrot vor Red.

Red dachte an die oft erzählte Geschichte zurück, dass ihre Familie ihren Reichtum verloren hatte.

„Sie hat erzählt, ihr Vater sei ein reicher Landbesitzer, der gestorben sei. Aber weil er keine Söhne hatte, wurde das Land, das er besaß, vom König gestohlen. Sie sagt, deshalb möchte sie, dass ich einen Adligen heirate. Damit wir unseren Platz in der königlichen Gesellschaft zurückholen können.“

Reds Großmutter sah Red hart an, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren Tee richtete. „Die Geschichte deiner Mutter würde mich zur schlimmsten Art Mensch machen, wenn sie wahr wäre. Und sie würde sie zu einer Abscheulichkeit machen.“

Red war schockiert über die Antwort ihrer Großmutter. „Warum, Oma? Ich verstehe nicht.“

Die Großmutter lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und wandte sich kurz dem lodernden Feuer zu. Sie dachte sorgfältig über ihre Worte nach und entspannte sich dann, als würde sie sich von dreißig Jahren Geheimnissen befreien.

„Das ist die Geschichte, die deine Mutter gerne als Wahrheit hätte, aber das ist sie sicherlich nicht. Es war nicht der Vater deiner Mutter, der ein reicher Landbesitzer war, sondern ihr Großvater. Mein Vater. Als ich ein kleines Mädchen war, lebten wir in dem schönsten Haus mit Blick auf die unzähligen Hektar Land, die mein Vater besaß. Er hatte es von seinem Vater geerbt, der es von seinem Vater vor ihm geerbt hatte.“

„Also, was ist damit passiert?“, fragte Red mit Hinblick darauf, wie bescheiden sie aufgewachsen war.

„Ich bin passiert … zusammen mit deinem Großvater“, sagte ihre Großmutter entschuldigend.

„Was meinst du?“

„Die Frauen in unserer Familie sind nicht wie die anderen ängstlichen, prüden Frauen um dich herum. Wir wurden mit Feuer geboren. Wir wurden mit Lust geboren.“

„Oma!“

„Lust, Redina. Hab keine Angst, es zu sagen. Es sind nur die rückständigen Heuchler, die hoffen, dich zu kontrollieren und dir etwas vorzuenthalten, die etwas anderes behaupten. Glaub ihnen niemals, wenn sie dir sagen, dass deine weibliche Macht falsch ist. Kümmere dich keine Sekunde um sie“, sagte sie wütend. „Sag es, Redina! Sag, dass du nicht zulässt, dass ihre Rückwärtigkeit deine Macht kontrolliert.“

„Ich werde nicht zulassen, dass sie meine Macht kontrollieren“, sagte Red widerstrebend.

„Das ist gut. Denn sobald sie deinen Geist haben, haben sie deinen Körper. Und was ist eine Person, die ihren Körper nicht kontrolliert? Ein Sklave. Die Frauen in dieser Familie, Redina, sind Sklaven von niemandem.“

In all den Jahren, die sie ihre Großmutter besuchte, hatte sie sie noch nie so reden hören. Sicher, sie war nie eine welkende Blume gewesen, aber wer war diese feurige Frau, die lebendiger war als jeder andere, den Red jemals getroffen hatte?

„Ich verstehe nicht, Oma. Was hat das alles mit deinem Mann zu tun, meinem Großvater?“

„Erstens war er nicht mein Ehemann. Deine Mutter möchte, dass die Leute das glauben, weil es bedeutet, dass sie immer noch eine akzeptable Frau der Gesellschaft sein kann. Aber das war er nicht. Dein Großvater war ein Stalljunge, nicht älter als ich. Als ich ihn zum ersten Mal sah, kann ich dir nicht sagen, was er mit meinem Körper anstellte. Es war, als würde ich zum ersten Mal meine Augen öffnen und das alles nur wegen ihm.

„Ich habe mich in ihn verliebt. Zumindest dachte ich, dass ich es hatte. Und wir haben uns immer wieder geliebt. Mein Vater wollte glauben, dass er für unsere Leidenschaft verantwortlich war, aber das war es nicht. In Wahrheit war er ziemlich schüchtern. Ich hatte ihn verführt. Ich war es, die zum ersten Mal seine Hand nahm und sie an meine Brust legte. Und ich war es, die ihn auszog und seinen Körper mit meinem eigenen erforschte.

„Ich war mir nicht sicher, wie lange ich mit deiner Mutter schwanger war, als ich es bemerkte. Meine Mutter war zehn Jahre zuvor gestorben, und die Frauen, die sich um unser Haus kümmerten, wussten es wahrscheinlich, wagten es aber nicht, es meinem Vater zu erzählen. Nein, mein Vater wusste es erst an dem Tag, als ich deine Mutter zur Welt brachte. Er war schockiert, dann wütend, aber schließlich akzeptierte er es.

„Er hat natürlich meinen Geliebten weggeschickt. Mein Vater machte ihn für alles verantwortlich. Ich befürchtete, dass mein Vater ihn halb tot prügeln lassen würde. Ich betete, dass dem nicht so war. Das hatte er nicht verdient. Er war nett und sanft. Das Einzige, dessen er sich schuldig gemacht hat, war, meinen Annäherungen zum Opfer zu fallen.“

„Oma, das ist so traurig.“

„Es ist, was es ist, meine Liebe“, sagte die Großmutter und fühlte die Traurigkeit, die sie damals gespürt hatte.

„Aber als mein Geliebter weggeschickt wurde, akzeptierte ich schnell, dass die Vergangenheit die Vergangenheit war. Ich musste mich jetzt um deine Mutter kümmern. Es war nicht so schwer, denn deine Mutter war damals so süß und hübsch wie eine Puppe. Mein Vater hatte einmal vorgeschlagen, dass ich deine Mutter weggeben sollte. So etwas hätte ich aber niemals getan. Ich habe sie zu sehr geliebt.

„Diese Entscheidung hatte jedoch Konsequenzen. Und ich habe diese Konsequenzen erfahren, als mein Vater krank wurde. Er und ich erkannten beide seinen Husten. Es war der gleiche, der meine Mutter getötet hatte.

„Wir haben darum gebetet, dass es ihm besser gehen würde, aber wir wussten beide, wohin es letztendlich führen würde. Dann versuchte mein Vater mich zu verheiraten. Aber kein Adliger wollte eine sechzehnjährige Frau mit einem Kind.

„Als klar wurde, dass er mir keinen Ehemann finden konnte, begann er das Land zu verkaufen. Wie deine Mutter richtig sagte, können Frauen kein Eigentum erben. Das Einzige, was er mir geben konnte, war Gold.

„Er konnte die ersten Grundstücke zu einem fairen Preis verkaufen. Aber die Landkäufer rochen schnell die Lunte. Mein Vater wollte unbedingt verkaufen. Am Ende verkaufte er, was er konnte, für ein Zehntel dessen, was es wert war. Danach starb er schnell. Und Tage danach kamen die Männer des Königs und warfen mich und deine Mutter aus dem einzigen Haus, das wir beide je gekannt hatten.“

„Das ist so unfair!“, rief Red aus.

„Das ist der Platz einer Frau in dieser Welt. Aber wir Frauen sind ein starker Haufen. Wir überleben. Ich überlebte. Und ich hatte das Gold meines Vaters. Es war genug, um das Haus zu kaufen, in dem du jetzt lebst, und deine Mutter zu erziehen wie die Puppe, als die ich sie immer betrachtete.

„Aber deine Mutter hatte die gleiche Lust wie ich. Und als sie deinen Vater traf, fiel sie der gleichen Leidenschaft zum Opfer wie ich.“

„Stimmt es, was meine Mutter über meinen Vater sagt?“, fragte Red und wusste nicht mehr, was sie glauben sollte.

„Ich weiß nicht, was deine Mutter dir über ihn erzählt hat. Aber soweit ich das beurteilen kann, war er ein Junge, nicht viel älter als deine Mutter. Wie ich und dein Großvater waren deine Mutter und dein Vater verliebt. Es hat sie gebrochen, als er deine Mutter verlassen hat und nie zurückgekommen ist. Einige Leute sagen, dass er während der ersten königlichen Wolfsjagden getötet wurde. Aber ich glaube, dass er mit sechzehn nicht bereit war, Vater zu werden.“

„Also denkst du, er ist gegangen?“

„Das sähe einen Mann ähnlich.“

Red sah ihre Großmutter ob des gerade Gesagten fassungslos an. Wer waren diese Leute, die sie beschrieb? Keiner von ihnen klang wie die Frauen, die sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatte. Und wer war die Person, die sie als ihre Mutter beschrieb? Red hatte sich vorgestellt, dass ihre Mutter in ihrem Leben noch nie verliebt gewesen war. Wie konnte jemand so Kaltes es jemals gewesen sein?

„Also hat mein Vater meine Mutter sitzenlassen?“, fragte Red und versuchte die Dinge zu sortieren.

„Das glaube ich.“

„Glaubt sie deshalb nicht, dass ich aus Liebe heiraten sollte?“

„Aus Liebe zu handeln ist das, was die Frauen in unserer Familie seit Generationen tun. Ich denke, sie glaubt, dass es dein Schicksal ändern wird, wenn sie dich an jemanden mit königlicher Geburt verkaufen kann. Ich denke, deshalb bringt sie dich immer dazu, meinen Umhang zu tragen.“

„Dein Umhang?“, fragte Red plötzlich nervös.

„Ja. Wo ist er übrigens? Ich kann mich nicht erinnern, dich jemals ohne ihn gesehen zu haben, seit du groß genug warst, um ihn zu tragen.“

Reds Gesicht wurde heiß. Sie schaute ihre Großmutter an und erinnerte sich daran, was damit geschehen war. Sie hatte es um einen schönen nackten Jungen gewickelt und der Junge war damit in den Wald geflohen.

„Ich habe ihn zu Hause gelassen“, log Red. „Hat dein Vater dir den Umhang gegeben?“

„Das hat er. Es war das letzte Geschenk, das er mir gegeben hat. Gegen Ende bot einer der diebischen Landbesitzer meinem Vater diesen Umhang für den letzten Teil seines Landes an. Es war natürlich eine Ungerechtigkeit und jeder wusste es. Aber da ich nichts anderes zu erben hatte, dachte mein Vater, wenn ich den Umhang hätte, würde seine Handwerkskunst auf meine edle Herkunft hinweisen und es würde ausreichen, das Herz von jemandem zu gewinnen, der sich um mich kümmern könnte.

„Es war kein unvernünftiger Gedanke. Aber nachdem er gestorben war, konnte ich mich nicht dazu bringen, ihn zu tragen. Ich konnte deine Mutter nicht einmal darin sehen. Aber deine Mutter hat ihn geerbt, als ich ihn zurückgelassen und hierhergezogen bin. Ich denke, sie hat die Vision meines Vaters neu erfunden, aber anstatt dass ich verheiratet würde, wärst du es.“

„Ich hatte ja keine Ahnung“, sagte Red fassungslos. „Ich wusste nicht, wie wichtig der Umhang für unsere Familie ist.“

„Es scheint, dass es viele Dinge gibt, von denen du nichts weißt. Ich gebe deiner Mutter dafür die Schuld.“

Reds Verstand wurde überflutet von Gedanken und Gefühlen. Schuld, Scham, Verständnis, all das tanzte in ihrem Kopf und bescherten ihr Übelkeit.

„Und weißt du, warum ich dich und deine Mutter verlassen habe und hierhergezogen bin?“, fragte ihre Großmutter mit ihrem ersten Lächeln.

„Nein, warum?“, fragte sie beinahe ängstlich, es herauszufinden.

„Ich sehe deinen Gesichtsausdruck, Redina. Es ist eine gute Sache. Es ist eine starke Sache. Das liegt daran, dass ich wusste, dass ich, solange ich im Dorf lebte, nach ihren Regeln leben musste. Ich müsste der blasse Jungfer sein, deren Intimregion zum Austrocknen bestimmt war. Aber hier draußen durfte ich die Frau sein, die ich sein sollte. Hier draußen könnte ich einen Liebhaber haben. Ich könnte viele Liebhaber haben … und das habe ich.

„Deine Großmutter hat in den letzten Jahren mehr gelebt als in allen anderen Jahre zusammen. Und morgen Abend, wenn der Mond voll wird, wird mein Geliebter mich besuchen kommen“, sagte sie mit einem echten Lächeln. „Und wir werden leidenschaftlich Liebe machen.“

Red hatte keine Ahnung, was sie davon halten sollte. So schön ihre Großmutter auch war, sie war immer noch eine alte Frau. Sie musste mindestens 50 Jahre alt sein. Vielleicht sogar 55. Dachten Frauen in so einem Alter noch an Sex? Oder war ihre Großmutter von einem Fluch geplagt?

Dort endete die Geschichte von Reds Großmutter. Für den Rest der Nacht wurde nicht viel anderes zwischen ihnen gesagt. Red machte die Stille nichts aus, wenn man bedachte, wie gedankenverloren sie war. So viel von dem, was sie über ihren Vater und ihre Familie geglaubt hatte, hatte sich in so kurzer Zeit geändert. Es war schwer für sie, alles zusammenzusetzen.

Als sie und ihre Großmutter in ihr gemeinsames Bett kletterten, dachte Red an das andere, was sie heute Abend entdeckt hatte. Ihr Umhang war nicht nur ein Werkzeug, mit dem ihre Mutter versuchte, sie zu verheiraten. Es war ein kostbares Erbstück, das ihre Großmutter von ihrem sterbenden Urgroßvater geschenkt bekommen hatte. Auf der sentimentalen Ebene könnte es das Wertvollste sein, was ihre Familie besaß. Sie musste es zurückbekommen. Doch wie?

Woher kam Tem, der nackte Junge, der aus dem Nichts aufgetaucht war? War er aus einem nahe gelegenen Dorf? Sie war mit ihrer Mutter in den nächsten Dörfern gewesen, als ihre Mutter nach einem geeigneten Ehemann für sie gesucht hatte. Tem war nicht unter den Auserwählten gewesen. Red war sich sicher, dass sie sich an einen Jungen, der wie Tem aussah, erinnern würde.

Red lag lange, nachdem ihre Großmutter eingeschlafen war, im Bett und wagte es, an etwas anderes zu denken, das mit Tem zu tun hatte. Tem war der erste Junge gewesen, den sie jemals nackt gesehen hatte. Er war so schön. Darüber hinaus hatte Red seine Männlichkeit gesehen. Wenn sie nur darüber nachdachte, prickelte ihr Körper.

Man hatte es ihr nie gesagt, aber Red fand heraus, was ein Mann wohl damit anfangen sollte. Und wenn es nicht das war, was die meisten Leute taten, wusste sie zumindest, was sie damit machen wollte. Sie wollte fühlen, wie es ihren empfindlichsten Bereich berührte.

Wie so oft nach dem Einschlafen ihrer Mutter senkte Red die Hand und schob ihre Finger zwischen die Beine. Das Fleisch zwischen ihnen war geschwollen, wie es oft zu dieser Nachtzeit war. Und wie so oft wiegte sie ihre Hand hin und her und streichelte sich. Es fühlte sich so gut an. Und als sie sich vorstellte, ihre Finger würden durch Tems nackte Männlichkeit ersetzt, fühlte sie einen Stich zwischen ihren Schenkeln, der sie dazu brachte, stärker zu reiben.

Als sie sich daran erinnerte, wie nahe sie seinem nackten Fleisch gewesen war, wurde ihr Körper heiß. In ihren Gedanken küsste sie seine Brust. Sein erdiger Geruch war süß auf ihren Lippen. Er spürte ihren Kuss, umklammerte ihren kleinen Körper mit Kraft und zog ihn an seinen.

Nackt in ihrem Traum spürte Red, wie Tem seine Männlichkeit gegen ihr zartes Fleisch drückte. Es sandte Funken durch sie. Mit ihr in seinen Händen würde er sie küssen. Selbst wenn sie fliehen wollte, konnte sie nicht. Er war ein wildes Tier und er würde sie haben, ob sie es wollte oder nicht.

Red spürte, wie Tems Männlichkeit an ihr rieb und erhöhte den Druck auf den Knopf, der zwischen ihrem geschwollenen Fleisch aufgeblüht war. Es tat weh, als sie ihn rieb, aber auf eine gute Weise. Ihre Beine zitterten, als sie ihn berührte. Und als sie schluckte und versuchte, nicht vor Ekstase zu schreien, explodierte ein chaotischer Puls in ihr, der dazu führte, dass sich ihre Beine fahrig bewegten und ihre Zehen sich zusammenkrampften.

Ihre Großmutter regte sich und Red erstarrte. Aber nicht bevor eine Empfindung über sie kam, die ihr das Gefühl gab, ohnmächtig zu werden. Es fühlte sich herrlich an. Und als die Ekstase nachließ und sie einschlief, stellte sie sich Tem neben sich vor. Dies musste sein, was ihre Großmutter mit ihrem Stalljungenliebhaber gefühlt hatte.

Red verstand nicht alles von der Geschichte, die ihre Großmutter ihr erzählt hatte, aber sie verstand das jetzt. Die Frauen in ihrer Familie hatten Lust und Leidenschaft. Zu leugnen, würde bedeuten, zu leugnen, wer sie waren, genauso wie ihre Mutter.

Vielleicht war Tem der Mann, mit dem Red zusammen sein sollte. Vielleicht würde sie ihrer eigenen Enkelin die Geschichte von ihm erzählen, wenn sie alt genug war.

 

 

Kapitel 3

 

Am nächsten Morgen wachte Red auf, als ihre Großmutter das Bett verließ. Ohne zu signalisieren, dass sie wach war, beobachtete Red sie. Ihre Großmutter verhielt sich anders. Sie war fast unruhig in ihrer Bewegung und Red konnte nicht anders, als sich als Eindringling in das Leben ihrer Großmutter zu fühlen.

Ging es um die Ankunft des Geliebten ihrer Großmutter? Red wusste es nicht, aber sie fühlte sich verpflichtet, ihrer Großmutter ihren Freiraum zu geben.

„Du bist wach?“, fragte ihre Großmutter, als sie Reds offenen Augen begegnete.

Red streckte sich als Antwort.

„Ich habe dir Frühstück gemacht, das du auf dem Rückweg mitnehmen kannst.“

„Danke, Oma“, sagte Red fassungslos über ihre Eile, sie loszuwerden.

„Ich habe auch die letzte Goldmünze beigefügt, die ich deiner Mutter geben werde. Es ist die Hälfte von dem, was ich übrig habe, und du kannst ihr sagen, dass sie nicht mehr bekommen wird. Wenn sie mehr braucht, kann sie sich eine Arbeit suchen und dafür arbeiten. Aber sie wird nichts mehr von mir bekommen.“

Red dachte über die Nachricht nach. Ihre Mutter würde es nicht mögen. Ihre Mutter verachtete den Gedanken zu arbeiten und blickte auf jede Frau herab, die dies tat. Ihre Mutter würde das niemals öffentlich sagen. Aber in der Privatsphäre ihres Hauses war ihre Meinung unstrittig.

„Danke Großmutter. Ich werde Mutter die Nachricht übermitteln.“

Red eilte aus dem Bett und aus der Tür, ging zum Ende des Weges und drehte sich dann um, um die Hütte anzustarren. Dabei entdeckte sie ihre Großmutter, die sie aus dem Fenster heraus beobachtete. Ihre Großmutter verhielt sich eigenartig, wirklich sehr eigenartig.

Als Red ihre Heimreise antrat, dachte sie über all die Dinge nach, die sie in der Nacht zuvor erfahren hatte. Ihre Mutter hatte sie glauben gemacht, dass ihr Großvater ein wichtiger Mann und Reds Vater ein respektabler junger Mann mit Potenzial gewesen war. Nichts davon stimmte. Red entstammte einer Linie von Stallburschen und Jungen, die vor ihren Verpflichtungen davonliefen. In Anbetracht dessen war es ein Aufstieg, mit einem Jäger verheiratet zu sein.

Red dachte mehr an Hunter. Wünschte sie sich, sie hätte Hunter erzählt, was mit ihrem Umhang passiert war? Wenn sie es ihm gesagt hätte, hätte er ihn vielleicht finden können.

Red dachte weiter darüber nach. Vielleicht hätte sie es tun sollen. So oder so könnte sie immer noch in der Lage sein, seine Hilfe zu bekommen. Sie musste nur warten, bis er in ein paar Tagen von seiner Jagdreise zurückkehrte.

Oder, noch besser, vielleicht würde Tem auf sie warten, wo sie ihn getroffen hatte und sie würde Hunters Hilfe überhaupt nicht brauchen. Sie machte sich Hoffnungen und näherte sich der Stelle. Sie war enttäuscht, als sie sah, dass er nicht da war.

„Tem?“, rief Red. „Tem, bist du da draußen?“

Es kam keine Antwort. Was sollte Red tun? Sie konnte in den Wald wandern und versuchen, ihn zu finden. Aber was würde sie tun, wenn sie an einen Räuber geraten würde, der ihr Geld stahl? Das Risiko war zu groß. Ihre Mutter wäre möglicherweise böse, wenn sie ohne Umhang zurückkam. Sie würde schäumen vor Wut, wenn sie auch das Gold ihrer Großmutter verlieren würde.

Red rief noch einmal in den Wald, bevor sie ihre Heimreise fortsetzte. Sie kam an, ohne gefrühstückt zu haben, und betrat das Dorf, als die morgendlichen Aktivitäten auf Hochtouren liefen. Rundliche Frauen wuschen Kleider. Jungen achteten nicht auf ihren Schulmeister, als er sie durch den Platz führte. Und Bauern kamen in die Stadt, um Vorräte abzuholen und einen Teil ihrer übrig gebliebenen Winterreserven zu verkaufen.

Red versuchte sich vorzustellen, was ihre Mutter tun würde, um in dieser Gruppe Geld zu verdienen. Das Einzige, was sie verkaufen musste, war ihre Schönheit. Aber mit ihrer borstigen Haltung würde sie eine schreckliche Wirtin abgeben.

Was Red neugieriger machte, war, ob ihre Mutter Red stattdessen zum Arbeiten anhalten würde. Ihre Mutter hatte immer gesagt, dass Adlige keine Bettler als Frauen wollten. Und so sah ihre Mutter Frauen, die arbeiteten, als Bettlerinnen.

So sah Red sie jedoch nicht. Genau genommen war es exakt das Gegenteil. Red sah einen Hauch von Freiheit darin, seinen eigenen Lohn verdienen zu können. Wer wollte völlig von einem Mann abhängig sein?

Sicher, da sie ohne Vater aufgewachsen war, konnte sie sehen, wie nützlich Väter sein konnten. Aber sie hatte auch genug von ihnen gesehen, wie sie aus der Taverne stolperten oder hinausgeworfen wurden, um zu wissen, dass sie manchmal mehr Ärger machten, als sie wert waren.

Andererseits, was wusste sie schon? Ihre Mutter sagte, es sei ihre Bestimmung einen Adligen zu heiraten, und sie war bereit, das zu tun, was ihre Mutter sagte. Aber Red wusste, dass ihre Zukunft eines Tages in ihren eigenen Händen liegen würde. Sie konnte es kaum erwarten. Und bis dahin würde sie ein gutes Mädchen sein und das tun, was ihre Mutter sagte.

„Mutter?“, rief Red, als sie durch ihre Haustür eintrat.

Ihr Zuhause war nicht groß, aber es war größer als viele Häuser im Dorf. Im Gegensatz zu den meisten hatten sie zwei getrennte Schlafzimmer. Es waren keine großen Räume, aber die Tür verhinderte, dass die Gerüche aus dem Kochtopf in ihren Kleidern hingen.

„Mutter?“

„Redina?“, antwortete ihre Mutter von draußen. Als sie eintrat, näherte sich die schlanke strenge Frau schnell. „Redina, wo ist dein Umhang? Was machst du ohne ihn?“

Red hatte die Frage erwartet, aber nicht gleich als Erstes.

„Ich habe ihn bei Oma gelassen. Ich war auf halbem Weg nach Hause, bevor mir klar wurde, dass ich ihn vergessen hatte. Die Morgen sind viel wärmer als früher.“

Ihre Mutter sah sie mit gerunzelter Stirn an. „Du kannst ihn nicht einfach lassen, wo immer du willst“, schimpfte sie.

„Ich weiß, Mutter. Es ist mir nur entfallen. Das ist alles.“

„Du musst ihn holen.“

„Oma schien sehr beschäftigt zu sein. Ich werde in einer Woche gehen, wenn sie mehr Zeit hat.“

„Das ist lächerlich. Sie lebt allein. Womit könnte sie wohl beschäftigt sein?“

„Ich denke, Oma erwartet einen Gast“, sagte Red und beobachtete ihre Mutter genau auf ihre Reaktion.

Ihre Mutter blieb stehen und starrte Red an. Ihre Mutter war einen Moment sprachlos. „Meine Mutter erwartet keinen Gast. Ich weiß nicht, wer dir das gesagt hat, aber es ist nicht wahr. Meine Mutter hat keine Gäste alleine da draußen. Es wäre unwürdig.“

„Mutter, Oma hat mir erzählt, dass sie … einen Liebhaber hat“, sagte Red und suchte nach einer Bestätigung für die Geschichte ihrer Großmutter.

„Redina, wie kannst du es wagen, so etwas über deine Großmutter zu sagen“, sagte sie eher verängstigt als beleidigt.

„Ich behaupte das nicht. Das hat mir Oma gesagt.“

Reds Mutter spannte ihre Lippen und streckte ihre Wirbelsäule. „Aha. Dann muss ich dir leider mitteilen, dass du über deine Großmutter etwas nicht weißt. Ich habe versucht, dir das eine Weile vorzuenthalten, aber deine Großmutter verliert langsam den Verstand.

„Sie macht seit Jahren die empörendsten Aussagen. Die Dinge, die sie über ihre Familie in ihrem Wahnzustand gesagt hat, waren skandalös. Du kannst nichts glauben, was diese Frau sagt. Es ist traurig, aber wahr.“

„Oma verliert den Verstand?“

„Na sicher. Hast du noch nie irgendwelches merkwürdiges Verhalten bemerkt?“

Red dachte an alles über ihren letzten Besuch zurück. Es war alles eigenartig gewesen. Hatte ihre Mutter recht? Verlor ihre Großmutter den Verstand? War etwas, was ihr über ihre Familiengeschichte erzählt worden war, wahr gewesen?

„Ich denke, sie hat sich eigenartig verhalten“, gab Red widerwillig zu.

„Inwiefern eigenartig?“

„Sie schien unruhig und als wollte sie mich nicht dort haben. Sie hatte alles für mich zusammengepackt, um zu gehen, bevor ich überhaupt aus dem Bett gestiegen war.“

„Da siehst du‘s. Deiner Großmutter geht es nicht gut“, sagte ihre Mutter und begann sich zu entspannen.

„Sie hat mir aber etwas gegeben, das ich dir geben kann.“

Ihre Mutter wurde plötzlich munter. „Hat sie das? Und was?“

Red griff in ihren Korb und nahm den Beutel mit den Münzen heraus. „Sie sagte, das sei die Hälfte von allem, was sie übrig hat. Sie sagte, wenn du mehr Geld brauchst, müsstest du dir eine Arbeit suchen und dafür arbeiten.“

Ihre Mutter erstarrte fassungslos. Wut überkam sie schnell. Sie nahm Red die Tasche aus der Hand und giftete über Reds Großmutter.

„Da siehst du es. Eine verrückte Frau. Und dann ist sie hingegangen und hat deinen Umhang an sich genommen. Sie versucht uns zu ruinieren. Das versucht sie zu tun.“

„Sie hat meinen Umhang nicht genommen. Ich habe dir gesagt, dass ich ihn dort vergessen habe.“

„Wie kannst du ihn dort vergessen? Du weißt, wie wichtig dieser Umhang für deine Zukunft ist. Ich habe es dir schon oft gesagt.“

„Ja, ich weiß. Er besteht aus feinstem Material, und eines Tages wird ein Prinz kommen, mich darin sehen und den Status zurückgeben, der unserer Familie gestohlen wurde.“

„Genau! Und soll ich glauben, dass du ihn ausgerechnet bei deiner Großmutter vergessen hast? Sie ist eine verrückte Frau. Sie hat ihn gestohlen.“

„Sie hat ihn nicht gestohlen.“

„Dann hol ihn dir.“

„Das werde ich. Ich habe dir gesagt, in einer Woche werde ich zurückkehren …“

„Nicht in einer Woche. Hol ihn dir jetzt. Du kannst diese verrückte Frau nicht damit allein lassen. Sie könnte ihn zusammen mit dem Haus und sich selbst verbrennen. Vielleicht sollten wir dafür sorgen, dass der Polizist mit uns kommt. Wir müssen die Kontrolle über ihr Haus und ihren Besitz übernehmen, das wäre besser, als wenn sie sich selbst Schaden zufügt.“

Ihre Mutter wog das Gewicht des Münzbeutels.

„Ja, vielleicht sollten wir bald mit dem Polizisten sprechen.“

Red konnte nicht glauben, was sie hörte. Ihre Mutter war nicht so subtil, wie sie dachte. Reds Mutter wollte den Rest des Goldes ihrer Großmutter und sie würde ihren fehlenden Umhang als Ausrede benutzen, um es zu bekommen. Red konnte das nicht zulassen.

„Ich habe dir gesagt, Mutter, ich habe die Reithaube dort vergessen. Oma hat ihn mir nicht weggenommen. Ihr geht es gut. Sie benahm sich überhaupt nicht eigenartig. Ich war es. Ich habe mich eigenartig verhalten. Ich habe den Umhang dort vergessen und das mache ich nie.“

Ihre Mutter sah sie an, als wäre ihre neue Erklärung ein Verrat an ihrem neu geschlüpften Plan. „Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen, ein Familienerbstück so nachlässig zu behandeln? Weißt du, wie wertvoll es ist?“

„Ist es einen Hektar Land wert?“, fragte Red und erinnerte sich an die Geschichte ihrer Großmutter.

Ihre Mutter starrte sie fassungslos an. Ihr Tonfall änderte sich, als wäre sie endlich erwischt worden. „Es ist einen Hektar Land und mehr wert. Es ist der einzige Wertgegenstand, den mein Vater mir hinterlassen hat. Und ich werde nicht zulassen, dass du ihn herumliegen lässt, als wäre es Müll. Hole ihn zurück.“

„Ich habe dir gesagt, dass ich ihn in einer Woche hole.“

Ihre Mutter war groß und stark wie ein Bär. „Hol jetzt den Umhang! Und kehre erst zurück, wenn du ihn hast.“

Red schrumpfte bei dem Anblick. „Ja, Mutter.“

Ohne ein weiteres Wort stellte Red ihren Korb ab und ging durch die Haustür. Sie war ein Dummkopf, ihre Mutter so zu drängen. Sie erkannte das jetzt.

Was hatte sie sonst erwartet? Ein gefangenes Tier wird immer angreifen. Und jetzt musste sie alleine nach Tem suchen. Sie konnte nicht einmal ohne Umhang nach Hause zurückkehren. Es war die schlimmste aller möglichen Situationen.

Red folgte dem Weg zurück zu dem Punkt, an dem sie Tem zum ersten Mal gesehen hatte.

„Tem?“, rief sie erneut an. Als sie keine Antwort erhielt, zog sie langsam die Zweige auseinander und betrat das Gebüsch.

„Tem?“, schrie sie und ging in eine zufällige Richtung in den Wald.

In Wahrheit hatte Red keine Ahnung, was sie tat. Sie war kein Fremder im Wald, aber es war lange her, seit sie dort gewesen war. Junge Damen spielten nicht im Dreck, sagte ihre Mutter. Und aus diesem Grund hörte sie auf, dort zu spielen.

Es war jedoch etwas Aufregendes daran. Der Wald war voller schöner Aussichten und Geräusche. Ein Chor von Vögeln sang von den Bäumen und eine Kaskade von Insekten summte, zwitscherte und zischte im Unterholz. Es war ein Leichtes, sich zu verlaufen, wenn man einem Geräusch folgte, aber Red erinnerte sich, dass das Wichtigste beim Betreten des Waldes darin bestand, zu wissen, wie man wieder herauskam.

In diesem Sinne betrachtete Red die Sonne. Es war kurz nach Mittag. Sie kannte kein Dorf, das in der Richtung existierte, aus der sie vermutete, dass Tem gekommen war, aber wenn er nackt durch den Wald rannte, dann konnte er nicht von so weit her kommen.

Nach zwei Stunden Suche verlor Red die Hoffnung. Wie sollte sie einen Mann mitten im Wald finden, wenn der Mann nicht gefunden werden wollte? Wer war Tem überhaupt? Woher war er gekommen?

Er hatte nicht mit einem besonderen Akzent oder Lispeln gesprochen. Tatsächlich hätte seine leise, beruhigende Stimme von überall in der Gegend kommen können. Das Einzige, was einen Hinweis darauf geben könnte, wer er war, war, wie perfekt seine Haut war. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte er keine Kratzer, Narben oder Körperbehaarung. Es war, als wäre er ein gänzlich ausgewachsener Neugeborener, der von den Göttern selbst geboren wurde.

Red erlaubte ihren Gedanken, sich etwas länger auf Tems Körper zu konzentrieren. Seine starken Schultern und Unterarme, seine kräftigen Beine und seine herabbaumelnde Männlichkeit waren alle in ihren Gedanken eingebrannt.

Warum war er nackt gewesen? Warum war er deswegen so gar nicht verlegen? War es da, wo er herkam, nicht unangebracht, nackt vor einer Frau zu stehen? Hätte er nicht so gedacht, wenn er sie für hübsch gehalten hätte? War das der Grund, aus dem er sich so wenig darum kümmerte, weil er sie nicht attraktiv gefunden hatte?

Als ihr aktueller Gedankenausflug abgeschlossen war, sah Red auf und stellte fest, dass sie nicht wusste, wo sie war. Sie war eine Stunde lang gedankenlos herumgelaufen und hatte sich verlaufen.

„Tem?“, rief Red erneut.

Diesmal bekam sie eine Antwort. Es war nicht die Antwort, die sie erwartet hatte. Es war eine Bewegung weit in der Ferne. Und sie klang nicht freundlich.

Red beschloss, nicht mehr auf sich aufmerksam zu machen und blickte zum Himmel auf, um ihren Weg zurück herauszufinden. Als sie den Wald hinter sich absuchte, bemerkte sie, wie wenig sie aufgepasst hatte. Jeder Baum und Strauch sah gleich aus. Was hatte sie gedacht, als sie alleine durch den Wald gereist war?

Sie brachte die Sonne in ihren Rücken und ging, wie sie vermutete, nach Osten. Nichts kam mir bekannt vor und die Sonne ging schnell unter.

Red dachte an Hunter. Sie war sich sicher, dass er irgendwo hier draußen war. Sie dachte darüber nach, was er jagen könnte. Obwohl sie nicht fand, dass sie keine Angst vor Wölfen hatte, gab es einen Grund, warum der König für jeden Wolfskopf, der ihm gegeben wurde, eine Belohnung gab. Es war, weil der Prinz, das einzige Kind des Königs, von Wölfen getötet worden war. Die Geschichte war so, dass die Königin mit dem Prinzen picknickte, als der Zweijährige herumwanderte und nie zurückkam.

Die gefundene Blutlache sagte den königlichen Jägern, dass er entführt worden war. Und als in der Nähe einer Wolfsgrube ein Kleidungsstück des Prinzen gefunden wurde, schwor der König, sein Land endgültig von den Kreaturen zu befreien.

Der Tod des Prinzen war zu einer Zeit passiert, als Red noch ein Baby war, also wusste sie nie, wann Wölfe nicht gefürchtet wurden. Und jetzt wanderte sie hier allein durch den Wald, während die Sonne unterging und sie sich nicht verteidigen konnte, falls ein Wolf angriff.

Je dunkler der Wald wurde, desto schneller raste Reds Herz. Sie war so dumm gewesen, nicht darauf zu achten, wohin sie gegangen war. Der Weg musste irgendwo in die Richtung sein, in die sie ging. Aber wie weit? Und wie lange würde es dauern, bis sie dort ankam?

Red erkannte, dass die einzige Rettung darin bestand, dass heute Abend Vollmond war. Sie hätte keine Chance gehabt, zurückzugelangen, wenn es eine mondlose Nacht gewesen wäre. Aber auf diese Weise hatte sie eine reelle Chance.

Als Reds Schritte die getrockneten Blätter unter ihr zum Knirschen brachten, achtete sie auf jedes Geräusch der Gefahr. Knarren, Pfeifen, Rascheln kamen auf unheimliche Weise näher, alles war erschreckend. Als in der Ferne etwas Vertrautes auftauchte, hob sie beinahe kreischend ihren Rock an und rannte darauf zu.

„Oma?“, rief Red, als sie sich der Hintertür ihrer Großmutter näherte.

Vielleicht hatte sie einen Besucher, vielleicht nicht. Aber das war auch nicht wichtig, wenn ihre Enkelin in Gefahr war, nicht wahr?

„Oma?“, rief sie, als sie vor der Tür stand.