VERSOHLEN IHRER KURVEN 3

Maggie Rivers blätterte durch den Terminplan für diese Woche, während sie an ihrem Vormittags-Latte nippte. Die neuen Mitarbeiter kamen heute an und die Einarbeitung begann diese Woche. Als IT Sekretärin ihrer Abteilung war es wie immer ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle mit ihren Arbeitsrechnern zufrieden waren.

Genaugenommen war das nicht ihr Job. Und sie war auch wirklich kein Computer-Ass, aber es machte ihr nichts aus zu helfen. Indem sie die neuen Angestellten einarbeitete, konnte sie die neuen Leute kennenlernen und vielleicht sogar neue Freundschaften knüpfen. Seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, fiel es ihr nicht leicht, neue Freunde zu finden.

Als Maggie beiläufig die Liste durchblätterte, sprang sie ein Name förmlich vom Bildschirm an. Ryan Parker, Manager, Projektentwicklung, Transfer vom Firmenhauptsitz.

Sie stellte ihren Latte ab und verzog das Gesicht. Das konnte nicht der gleiche Ryan sein, mit dem sie zur Schule gegangen war, oder? Ryan Parker war kein ungewöhnlicher Name. Vermutlich gab es unzählige davon in der Welt.

Was aber, wenn er es doch war? Sie hatten jahrzehntelang im gleichen Viertel gewohnt und waren dreizehn Jahre lang auf die gleichen Schulen gegangen. Bis zum ersten Jahr auf der Highschool waren sie die dicksten Freunde gewesen. Aber im Sommer nach der achten Klasse hatte sich alles geändert. Sie hatte angefangen zuzulegen und statt mit ihm ins Schwimmbad zu gehen, hatte sie einen kleines Antiquariat gefunden, in dem sie sich verstecken konnte. Und als dann die Schule wieder los ging, versteckte sie sich weiterhin.

Dieses Antiquariat war damals ihr Lieblingsort. Es war die ganze Highschoolzeit über ihr Unterschlupf gewesen. Noch immer war es der Ort, an den sie am liebsten ging. Es hatte etwas besonderes, diese seltenen Bücher in der Hand zu halten, die sie zu anderen Zeiten und Orten führten. Einen Klassiker in der Hand zu halten, der über 100 Jahre alt war, fühlte sich an, als wäre man ein Zeitgenosse von Mark Twain oder Jane Austen. Das gab ihr einen eigenen Fleck in der Welt.

In den letzten paar Jahren hatte der Eigentümer aber angefangen von Ruhestand zu reden. Das machte Maggie traurig. Sie wusste, dass niemand den Laden übernehmen wollen würde. An den meisten Tagen war sie die einzige Kundin. Die Leute hatten offenbar kein Interesse mehr an alten Büchern. Es war eine Tragödie.

Maggie schloss ihre Emails und trank den Latte aus. Ryan hatte es auch geliebt zu lesen. Früher waren sie mit den Rädern raus in den Park gefahren, sich ins Gras gelegt und stundenlang geschmökert. Manchmal hatte jeder still sein eigenes Buch gelesen und manchmal las sie ihm vor.

Das war aber nicht alles, was sie gemacht hatten. Sie hatten auch oft “Abenteuer”, wie sie es nannten. Diese Abenteuer endeten fast immer damit, dass sie Ärger bekamen. Das waren mit die schönsten Momente in Maggies Leben gewesen. Sich zusammen mit Ryan Ärger einhandeln, mit einem Buch in ihrer Tasche, mehr brauchte sie nicht für einen perfekten Tag.

Maggie lächelte, als sie daran dachte. Sie war noch in Gedanken, als sie die Trainingsunterlagen für ihre Vorbereitung aus dem Regal holte. Egal, wer dieser Ryan Parker am Ende sein würde, dachte sie, zumindest brachte er eine Reihe toller Erinnerungen wieder zum Vorschein.

Den ganzen restlichen Vormittag musste Maggie feststellen, dass sie lächelte, während sie mit einigen der Neuankömmlinge die Grundlagen des Emailsystems durchging. Sie konnte es nicht lassen, immer wieder an die Missetaten zu denken, die sie begangen hatten und an die Dinge, die ihre und Ryans Eltern mit ihnen durchmachen mussten.

 

Mittags packte sie ihr Essen aus und machte es sich an ihrem Tisch bequem. Das Buch des Tages war ihre neueste Errungenschaft aus dem Antiquariat: eine Erstausgabe von Der Zauberer von Oz. Es war unbezahlbar, aber der Besitzer hatte es ihr für fast nichts überlassen. Während sie am Essen knabberte und las, kam ihr Chef an ihrem Tisch vorbei und machte ein paar Bemerkungen zur Einarbeitung vom Vormittag.

“Alle haben gesagt, du wärst sehr freundlich und super drauf, Maggie. Freut mich zu hören. Weiter so.”

“Danke,” antwortete sie lächelnd.

Es fiel ihr leicht, super drauf zu sein, während sie an den Ärger dachte, in den sie sich mit Ryan regelmäßig gebracht hatte. Maggie hatte es wirklich genossen dieses schelmische Kind zu sein. Und noch mehr hatte sie es genossen, Ryan als Komplizen zu haben.

Der Nachmittag verlief ziemlich genauso. Als sie dann abends im Bett lag, musste sie nicht an die jugendlichen Probleme denken, in die sie sich gebracht hatten, sondern an ihre Highschool-Jahre. Vor ihrem ersten Jahr hatte Ryan eine Zeit lang versucht, sie dazu zu bringen, mit ihm wie sonst Zeit zu verbringen, aber sie hatte es abgeblockt. In diesem Sommer hatte sie sich so geschämt, weil sie zunahm.

Als die Schule dann anfing, hatte er eine ganz neue Gruppe von Freunden und schien sie vergessen zu haben. Sie sah ihn noch immer oft. Er wurde größer, breiter und trat dem Schwimmteam und der Fußballmannschaft bei. Sie ging zu den Schwimmveranstaltungen und Fußballspielen, um ihm zuzusehen, aber nur versteckt hinter einem Buchdeckel. Während sie so tat, als würde sie lesen, starrte sie auf seinen sich entwickelnden Körper. Sie war erstaunt, wie gutaussehend er wurde.

Als sie sich im Bett herum wälzte, fiel ihr wieder ein, dass die Schwimmveranstaltungen die reinste Folter für sie gewesen waren. Die Abschlussklasse war am schlimmsten. Er war schlank und geschmeidig, als er aus dem Becken kletterte. Seine gespannten Muskeln glitzerten vom Wasser, und sie konnte nur von der hinteren Tribüne aus wie eine Fremde zusehen.

Maggie seufzte und versuchte, an etwas anderes zu denken, aber das Bild wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Ganz sicher würde er nach zehn Jahren auch ein wenig dicker sein, oder? Das wäre nur gerecht. Sie seufzte wieder und drehte sich zur anderen Seite, aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie einschlief.

Am nächsten Tag fiel es Maggie schwer, freundlich und gut drauf zu sein. Sie tat ihr bestes, während der Trainingseinheiten so zu tun als ob, und hoffte, dass es niemand merkte. Die bevorstehende Trainingseinheit mit Ryan Parker nagte an ihr. Sie hob sich normalerweise die Managementversetzungen bis zum Schluss auf, damit sie erst ihr Büro einrichten konnten. Aber Mr. Parker, wer auch immer er war, wollte sie so lang wie möglich aufschieben. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte, falls es ihr Ryan war.

Als ihr Termin immer näher rückte, wusste Maggie, dass sie es nicht länger vor sich her schieben konnte. Ihr Herz klopfte, als sie ihre Sachen nahm und sich auf den Weg zu Mr. Parker machte.

Sein Assistent sagte ihr, dass er einen Moment weg war und sie in seinem Büro warten könne. Maggie nickte und ging hinein. Sie hatte sofort das Gefühl, dass das Büro etwas angenehmes an sich hatte. Es war noch immer ziemlich kahl, abgesehen von ein paar persönlichen Dingen. Aber was er schon eingerichtet hatte, fühlte sich irgendwie vertraut an.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihr niemand zusehen konnte, ging Maggie im Büro umher. Es gab keine Fotos, aber was Maggie gleich ins Auge sprang, war ein Set in Leder gebundener Bücher, das im Regal hinter dem Schreibtisch stand. Sie lehnte sich über den Tisch, um genauer hinzusehen. Die Beschriftung der Buchrücken war verblasst. Als sie sich noch etwas näher beugte, sah sie etwas, das sie sowohl alarmierte als auch erfreute. Es waren Ausgaben von: Fiesta, Schlachthof 5 und Ulysses.

“Hallo, sie müssen Maggie sein,” sagte eine maskuline Stimme.

Maggie schreckte hoch, bevor sie sich wieder fangen konnte. Sie konnte nicht glauben, dass sie beim herumschnüffeln erwischt worden war. Noch schlimmer, sie war dabei über den Tisch gebeugt. Das waren nicht die runden Backen, mit denen sie ihn begrüßen wollte.

Ihr Gesicht wurde heiß, als sie sich umdrehte, und sie musste alles geben, um so zu tun, als wäre nichts gewesen.

“Ja,” sagte Maggie sofort und suchte sein Gesicht nach etwas Vertrautem. “Und sie müssen Mr. Parker sein. Ich habe gerade ihre Bücher bewundert.”

Er nickte, ging durch den Türrahmen und zu seinem Schreibtisch. Maggie erkannte ihn sofort. Er war zehn Jahre älter, seine Haare dunkler, aber davon abgesehen war er noch atemberaubender, als sie ihn Erinnerung hatte. Ryan Parker, der Freund aus ihrer Kindheit, war zurück in ihr Leben getreten.

Maggie erwiderte seinen Blick und fragte sich, ob er sie erkannte. Sie drückte den Ordner mit den Trainingsunterlagen gegen ihren üppigen Busen. Sie versuchte, nicht nervös zu wirken, und biss sich auf die Unterlippe.

Ryan nahm eine Kiste vom Schreibtisch und stellte sie auf den Boden. “Ich hatte eine Freundin, die mich zu einem Bücherwurm gemacht hat, als ich ein Kind war,” sagte er und zuckte leicht mit den Achseln. “Es gibt ein paar, an denen ich nicht vorbei komme.” Er nickte zum Bücherregal. Dann zeigte er ihr an, dass sie sich setzen sollte.

“Das ist völlig in Ordnung,” sagte Maggie, die erleichtert war, dass er sie offenbar nicht erkannte. Sie hatte seit der Highschool noch Gewicht zugelegt, aber darüber hinaus war es etwas peinlich, dass sie noch immer eine Sekretärin war, während er offensichtlich Karriere gemacht hatte. “Es gibt sicherlich schlimmer Dinge, an denen man hängen bleiben kann, oder?”

“Richtig,” stimmte er grinsend zu. “Sie sind also das Computergenie hier?”

Maggie grinste zurück und schüttelte den Kopf. “Nicht mal ansatzweise. Ich habe nur Zeit, allen zu zeigen, wie sie sich in ihren Emailaccount einloggen. Wenn sie wirklich Hilfe brauchen, müssen sie die echten Genies anrufen. Aber ich gehe an ihre Telefone.” Sie grinste wieder, legte den Ordner auf den Tisch und öffnete ihn.

Ihm zu zeigen, wie er in das Firmennetz kam, ging schnell und reibungslos. Sie waren einige Minuten vor dem Feierabend fertig.

“Wenn sie Hilfe brauchen,” sagte Maggie während sie die Nummer der IT Abteilung auf einen Notizzettel kritzelte, “können sie gerne anrufen. Dann schicke ich wen, der sich darum kümmert.”

“Danke,” sagte Ryan. Er drehte seinen Stuhl um, um sie direkt anzusehen. “Bevor sie gehen….”