INSELZUCKER: BABY NEWS

Kapitel 1

(Joanna)

 

Joanna saß in der würdelosen Position, in der sich schon sehr viele Frauen vorgefunden hatten. Ihre Jeans ruhten bei ihren Knöcheln, und ihre Hand streckte sich, einen Schwangerschaftstest haltend, zwischen ihre Beine in die Toilette. Das war nicht der Zeitpunkt, um nicht müssen zu können. Normalerweise hatte ihre Blase die Größe eines Fingerhuts. Heute allerdings war es, als schaute ihr ein ganzes Stadion voller Leute zu. 

„Komm schon“, sprach sie sich Mut zu, als ihr bewusst wurde, wie lange sie schon auf der Toilette war.

Es war ja nicht so, dass sie zuhause war. Sie war nicht einmal auf Exuma, der bahamischen Insel, auf der sie mit Devlin und Paulo lebte. Nein, sie befand sich auf der Toilette einer Kunstgalerie auf Paradise Island, der Touristenfalle einer Insel, die sie besucht hatte, als sie die beiden Lieben ihres Lebens getroffen hatte.

Exuma war als Insel zu klein, um darauf einen Schwangerschaftstest zu kaufen. Denn selbst wenn der Laden einen hatte, würde es nicht lange dauern, bis jeder auf der Insel wüsste, dass sie einen gekauft hat. Also hatte sie sich stattdessen dazu entschlossen, mit Ms. Mable, ihrer Haushälterin, mitzukommen, als diese Vorräte von der Hauptinsel holte.

Doch wer konnte schon warten, bis er nach Hause kam, um den Test zu machen? Die Verpackung sagte, dass es nur drei Minuten dauern würde. Die Firma hatte es ganz eindeutig unterschätzt, wie lange es brauchen würde zu pinkeln, wenn der Rest deines Lebens davon abhing. 

Joanna gab ihr Bestes, nicht darüber nachzudenken, was ein positives Ergebnis bedeuten würde, und schloss ihre Augen, dachte an das letzte Mal, als sie und ihre zwei Jungs zusammen gewesen waren. Es war vor Paulos Abreise nach Japan gewesen. Das war vor mehr als einem Monat gewesen, und der Sex, den die drei zusammen gehabt hatten, war herrlich gewesen.

Sie spürte, wie sich ihr Körper entkrampfte und der Urin sich seinen Weg durch ihren Körper bahnte. Endlich würde sie Gewissheit haben. Sie würde wissen, ob sich ihr Leben und das der Männer, die sie mehr als alles auf der Welt liebte, für immer änderte. Bei diesem Gedanken verspannte sich ihr Körper wieder und der ganze Urin, den sie gerade freigeben wollte, blieb in ihrem Körper.

„Verdammt nochmal!“, rief sie zutiefst frustriert auf.

„Brauchen Sie Hilfe da drin?“, ertönte eine männliche Stimme außerhalb der Tür.

Joanna schlug sich die Hand vor den Mund. Die Kunstgalerie war nicht sehr groß. Sie hatte nicht mal die Größe ihres Wohnzimmers in Exuma, und die dünne Badezimmertür ging direkt zum Galerieraum hin auf. Das bedeutete, dass – ob sie wollten oder nicht – jeder in der Galerie sie hören konnte. Das erleichterte ihr das Pinkeln nicht.

„Nein, danke. Ich habe nur etwas fallen gelassen. Alles klar hier“, sagte sie, gewillt alles zu behaupten, um der helfenden Aufmerksamkeit des Mannes zu entfliehen.

Sie sah ein, dass momentan gar nichts geschehen würde, also holte Joanna das Stäbchen unter sich hervor und seufzte. Warum mussten die wichtigsten Dinge immer so schwer sein?

Joanna wollte gerade ihre Hosen hochziehen und schnell die Galerie verlassen, als sie auf das Stäbchen hinuntersah. Es tauchte darauf auf.

Wie konnte das sein? Hatte sie vor Schreck draufgepinkelt? Das musste es sein. Und einfach so zeichnete sich ihr restliches Leben vor ihr ab.

War das ein Minus? Es sah irgendwie wie ein Minus aus. Oh nein, es ist ein Minus.

Nein, Moment, vielleicht nicht. Das Symbol formte sich weiter aus. Es hatte vier Punkte, nicht zwei. Sie sah sich kein Minus an, sie sah sich ein Plus an.

Das war’s. Es war ein Plus. Sie war schwanger. Oh Gott, sie war schwanger. Sie würde ein Baby bekommen, und Devlin und Paulo waren die Väter.

Als wäre er von einem Freudentsunami erfasst worden, schwamm Joannas Geist in einem Zustand puren Glücks davon. Sie würde eine Mutter werden. Sie drei würden eine Familie werden. Ihr Leben war jetzt vollständig.

Mit diesem Gefühl von unvergleichlicher Freude zog Joanna schließlich ihre Hosen hoch und verließ die Toilette. Als sie die Galerie erneut betrat, schienen alle Farben intensiver. Die bunten Gemälde im bahamischen Stil sprangen praktisch von der Leinwand. Und die, die am weitesten sprangen, waren von einem Künstler, den Joanna sehr gut kannte. Sie fühlte sich weitaus verbundener mit ihnen, als sie es vorher konnte, trat an sie heran und betrachtete sie.

„Sie sind wunderschön, nicht wahr?“, sagte die bekannte männliche Stimme hinter ihr.

Joanna drehte sich zu dem Mann um und sah ihn an. Sie war ein paar Mal in der Galerie gewesen, seitdem sie angefangen hatte, die Insel zu besuchen, aber sie erkannte ihn nicht. 

„Sie sind unglaublich“, verkündete Joanna.

„Sie stammen von einem Künstler namens Paulo Lunn. Er ist ein Genie.“

Joanna schaute zu dem Mann und kämpfte ihr Lächeln nieder. „Ich denke, ich habe von ihm gehört. Er hat diese Zuckerkunst gemacht, oder?“

„Ja. Das war unglaublich. Haben Sie die Stücke gesehen?“

Natürlich hatte Joanna die Stücke gesehen. Paulo hatte sie erschaffen, indem er ihren Bonbonzucker verwendet hatte. Es war diese Arbeit, die die drei zusammengebracht hatte.

„Ich habe einige von ihnen gesehen“, sagte Joanna, sie wollte nicht ihren Deckmantel der Anonymität auffliegen lassen. Doch sie konnte sich nicht ganz und gar zurückhalten, also fügte sie hinzu: „Und ich besitze eines.“

„Tatsächlich?“, sagte der geringfügig ältere Mann überrascht. „Wenn Sie ein Sammler seiner Arbeit sind, dann würde ich Ihnen vorschlagen, dieses Werk ihrer Sammlung hinzuzufügen.“

Der Mann sah sich in der leeren Galerie um, so als wollte er feststellen, ob noch jemand anderes zuhörte. „Das haben Sie nicht von mir, aber das ist womöglich eines der letzten Werke, die er jemals erschaffen hat.“

Joanna sah den Mann verwirrt an. War das eine Art Verkaufsmasche? Versuchte er Paulos Arbeit rar und damit schlussendlich anziehender erscheinen zu lassen?

„Warum sagen sie das?“, fragte Joanna verwirrt.

Der Mann lächelte etwas zu glücklich, etwas teilen zu können, von dem er dachte, nur er wüsste es. „Das haben sie auch nicht von mir, aber ich habe kürzlich mich ihm gesprochen, und es scheint, dass er monatelang nichts gemalt hat. Tatsächlich ist er gerade in Japan und versucht verzweifelt, seinen kreativen Funken wiederzuerlangen. Es läuft nicht gut. Er fängt an zu denken, dass er niemals wieder malen wird.“

Joanna sah diesen hellhäutigen, schnurrbärtigen Mann schockiert an. Was sagte dieser Typ? Dachte er sich das lediglich aus oder wusste er etwas, das sie nicht wusste?

„Das hat er Ihnen erzählt?“, fragte Joanna und versuchte, alle Stücke zusammenzusetzen.

„Hat er.“

„Aus Tokyo?“, testete Joanna.

„Eigentlich ist er auf Taketomi Island. Das ist eine kleine Insel der Okinawa Inselgruppe. Sind Sie mit Japan vertraut?“

Joanna starrte ihn verblüfft an. Er hatte Recht. Genau da war Paulo. Der einzige Weg, wie dieser Typ das wissen konnte, war, dass er mit ihm gesprochen hatte. Sie hatte es fast nicht auf der Karte finden können, als Paulo sie und Devlin darüber in Kenntnis gesetzt hatte, wohin er gehen würde. Und als sie Paulo gefragt hatte, warum er da hinging, war seine einzige Antwort: „Inspiration“, gewesen.

„Nein“, antwortete Joanna, der offiziell jede Babyfreude, die sie gehabt hatte, entzogen wurde.

„Die Insel gleicht eigentlich den äußeren bahamischen Inseln ziemlich stark. Paulo beschrieb sie den Exumas sehr ähnlich, falls Sie dort gewesen sind.“

„Ich war da“, sagte sie und fühlte sich plötzlich benommen.

„Wie dem auch sei, wie ich schon gesagt habe, wenn Sie ein Sammler seiner Werke sind, sollten Sie dieses Stück vielleicht ergattern wollen, denn es ist gut möglich, dass nichts weiter kommt.“

Joanna hasste inzwischen das selbstgefällige, allwissende Lächeln dieses Typen. Wer glaubte er, war er? Ob er nun etwas verkaufen wollte oder nicht, dies waren keine Dinge, die er über Paulo erzählen sollte. Besonders, da offenbar nicht wusste, von was er da sprach.

„Danke“, sagte Joanna und machte sofort kehrt und lief hinaus.

Joanna eilte zurück zum Anlegeplatz, um sich mit Ms. Mable zu treffen, und ließ alle kürzlichen Unterhaltungen mit Paulo noch einmal Revue passieren. Es war ihr vorher nicht aufgefallen, aber es schien, dass er etwas neben sich stand. Warum war ihr das nicht eher aufgefallen? War sie so sehr damit beschäftigt gewesen, die Bonbonherstellung in Exuma einzurichten? Das musste es sein.

Und wann war das letzte Mal, dass sie ein neues Bild von Paulo gesehen hatte? Er hatte nach der Zuckerkunst auf jeden Fall noch ein paar neue Stücke gemacht, aber das war vor fast einem Jahr gewesen. Oder war es sogar mehr?

„Oh mein Gott, er hat Recht“, sagte Joanna wütend auf sich, dass es ihr vorher noch nicht aufgefallen war.

Jedes Mal, wenn sie und Devlin das Neuste zu ihrem Bonbon-Geschäft erwähnt hatten, hatte Paulo nur gelächelt. Er hatte ausschließlich ermutigende Worte für sie, doch es war immer eine Traurigkeit in seinen Augen gewesen, über die sie es vorgezogen hatte, hinwegzusehen. Die sexuelle Verbindung, die sie weiterhin miteinander teilten, war gut geblieben. Vielleicht war das der Grund, der sie abgehalten hatte zu bemerken, dass Paulo etwas durchmachen könnte.

Zum Bootsanleger eilend kramte Joanna ihr Telefon hervor. Wie spät war es in Japan? Sie schaute auf die zwei Zeitanzeigen ihres Telefons und sah, dass es gerade kurz nach 2 Uhr nachts war. Sie kümmerte sich nicht um die Uhrzeit, sondern rief an. Das Telefon klingelte eine verdammt lange Zeit, und dann ging die Mailbox ran.

„Schläfst du, Paulo? Seit wann gehst du vor 3 schlafen? Ruf mich an, wenn du diese Nachricht bekommst. Es ist wichtig.“

Joanna legte auf und sah auf das Telefon, wählte die Nummer noch einmal. Wenn der erste Anruf ihn nicht aufgeweckt hatte, sollte er zumindest jetzt wach genug sein, um ans Telefon zu gehen. Es klingelte ohne Antwort.

Was war hier los? Er hatte immer das Telefon abgenommen, ganz egal, wie spät es war. Stimmte etwas nicht? Hatte schon eine lange Zeit etwas nicht gestimmt, und sie hatte es nicht bemerkt? Sie musste es herausfinden.

 

 

 

Kapitel 2

(Paulo)

 

Paulo saß bewegungslos da, als er auf die weiße Leinwand starrte. Die Leere machte sich über ihn lustig. Es war, als lachte die Leinwand über ihn. Er konnte es hören. Es war laut und zum Verrücktwerden. Mit einem Pinsel in der Hand saß er geduckt da, um sie mit Farbe zum Schweigen zu bringen, doch er tat es nicht. Er konnte es nicht. Er wollte, aber es war, als könnte sein Gehirn seinen Arm nicht dazu bringen, sich zu bewegen.

Was zum Teufel war mit ihm los? Malen war für ihn so leicht gewesen wie  Atmen. Eine Leinwand zu füllen war so erleichternd wie schlafen. Paulo hatte mal gelesen, dass eine Person ohne Schlaf verrückt werden würde.  

Passierte das mit ihm? Wurde er verrückt? Lachte die Welt über ihn? Stammte der nicht enden wollende Schmerz in seiner Brust von dem Gewicht der Welt, die ihm den Atem nahm?

„Hört auf, über mich zu lachen“, verlangte Paulo.

Das Lachen hörte nicht auf.

„Hört auf, über mich zu lachen!“, schrie er, das Gelächter wurde lauter.

„Hört auf. Hört auf! HÖRT AUF!“, wehrte er sich, ehe er rote, schwarze und blaue Tuben nahm und sie alle gegen die Wand warf.

Die Tuben schlugen auf und versprengten überall Farbe. Paulo entkam ein Urschrei, den er in die Dunkelheit entließ. Mehr hielt er nicht aus. Er war am Ende seiner Kräfte angelangt, und Paulo konnte spüren, wie er in sich zusammenbrach. Er war drauf und dran, seine Kleidung herunterzureißen und völlig übergeschnappt in die Nacht hinauszurennen, als die endlose Stille durchbrochen wurde.

Zusammen mit dem Geräusch wurde Paulo ins Hier und Jetzt katapultiert. Sein Verstand erschien wieder auf der Bildfläche. Was war das für ein Geräusch? Paulo konnte es kaum erkennen, schließlich fiel es ihm ein. Es klingelte. Es war sein Telefon. Wie spät war es?

Ein Blick auf die nun mit Farbe bedeckte Uhr zeigte ihm die Zeit. Es war 2:13 nachts. Wer rief ihn so spät an? Es war ganz offensichtlich jemand von der anderen Seite des Globus.

War es ein Kunsthändler, der ihn für Kunstwerke hinterherjagte, die er vor Monaten versprochen hatte? War es eine Galerie, die ihn für weitere Arbeiten unter Druck setzte? Er hätte den Anruf ignorieren sollen, doch sein innerer Sadist musste es wissen.

Er folgte dem Geräusch durch das Zimmer und machte es unter seinen Kleidungsstücken aus. Da bemerkte er, dass er bereits nackt war. Wann war das passiert? Warum war ihm das zuvor noch nicht aufgefallen? Hatte er sie sich bereits vom Leib gerissen und war wie ein Verrückter durchs Dorf gerannt? Wohl nicht. Aber er verlor die Übersicht über die Reihenfolge des Geschehens. Er war definitiv dabei, seinen Verstand zu verlieren.

Er fischte sein Telefon heraus und sah es an, da hörte es auf. Hatte er bereits geantwortet? Nein, hatte er nicht. Das Klingeln hatte aufgehört, weil er zu spät gewesen war. Das war alles. Die Ordnung aller Dinge wurde klarer.

Er ließ seinen Geist in diese neue Richtung wandern, aber er wurde zurückgeschleudert, als das Telefon piepste.  Er schaute es an. Es sagte ihm, dass er eine Sprachnachricht hatte. Sie war von Joanna, die liebliche Joanna, eine der Lieben seines Lebens, Joanna. Und noch ehe er darüber nachdenken konnte, wie er sie sonst noch beschreiben könnte, klingelte das Telefon erneut.

Paulo starrte das Telefon mit steigender Panik an. Der blinkende Bildschirm ließ ihn schlucken. Er wollte antworten, aber er konnte nicht. Warum konnte er nicht? Aus demselben Grund, aus dem er nicht malen konnte?

Mit einer neuen Panikwelle fummelte Paulo am Knopf für die Lautstärke herum. Es musste aus sein. Das Geräusch musste weg. Er musste seine gesamte Beherrschung zusammennehmen, um das Telefon nicht in eine Million Teile an die Wand zu werfen. Er widerstand aber. Er hatte den Lautstärkeregler gefunden und herunterreguliert. Dann war es wieder still. Wundervolle Stille. In den Wahnsinn treibende Stille.

Paulo blieb so bewegungslos wie möglich, atmete schließlich aber ein. Warum atmete er so schwer? Stimmt, er hatte nur Augenblicke zuvor einen Wutanfall gehabt. Er sah auf und betrachtete das Zimmer und fand die Überbleibsel davon. Überall war Farbe, an den Wänden, auf dem Boden. Doch das Ironischste und Treffendste von allem war, dass, obwohl Farbe draußen über die Fensterbank heruntertropfte, kein einziger Tropfen auf der Leinwand gelandet war.

Wie konnte das sein? Das hätte er nicht einmal mit Absicht so hinbekommen können, selbst wenn er es versucht hätte. Es war wie ein Wunder, und die Absurdität dessen ließ ihn lachen. Und als er einmal mit Lachen angefangen hatte, konnte er nicht mehr aufhören.

Das funktionierte nicht, entschied er. Nachdem er versucht hatte, in Exuma zu malen, hatte er angefangen, Zeit in Nassau zu verbringen. Dafür hatte er Angelegenheiten mit seinem Vater bereinigen müssen, aber er hatte es geschafft. Doch da zu leben, funktionierte ebenso wenig.

Dann hatte er versucht, in Paris zu malen, dann Italien. Nirgends war er auch nur in der Lage gewesen, einen einzigen Pinselstrich auf die Leinwand zu bringen. Er war am Überlegen gewesen, das alles aufzugeben, als ein anderer Künstler ihm von Taketomi Island erzählt hatte. Es hörte sich so friedlich an, dass Paulo sicher gewesen war, dass es ihn von seinem Leiden heilen würde. Hatte es nicht. Jetzt war er hier, ganz allein und am Verrücktwerden.

„Das funktioniert nicht“, sagte er zu welchem Zuhörer auch immer. „Was soll ich denn jetzt machen?“